Ich musste prüfen, ob Tobias Herz schlägt. Der Herzschlag, dem ich praktisch jede Nacht in den vergangenen acht Jahren beim Schlagen zugehört hatte, schlug nicht mehr. Ich hörte es nicht. Ich presste mein Ohr auf Tobias Brust und nahm überhaupt nichts wahr. Kein Puls tastbar.
Ich hörte dem Mann von der Leitstelle gar nicht richtig zu. Ich wusste, ich muss ihn aus dem Bett holen. Herzdruckmassage geht nur mit hartem Untergrund. Knappe 90kg Mann aus dem Bett wuchten – keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Ich habe darauf geachtet, seinen Kopf zu halten, um ihn nicht schwerer zu verletzen.
Ich habe sein Shirt hochgezogen und losgelegt. Herzdruckmassage. Im Hinterkopf der Song „Stayin Alive“. Langsam drang auch die Stimme vom Mann am Telefon wieder zu mir durch. Ich müsse ihn jetzt vom Bett auf den Boden ziehen und anfangen. „Ich bin schon dran!“ hab ich gesagt, „Ich führe die Herzdruckmassage durch!“
Mindestens 6cm tief eindrücken, sagte er mir, 30 mal drücken, dann beatmen. Bitte laut mitzählen, er bleibe am Telefon, er sei da, bis Hilfe kommt.
Beatmen ging nicht. Zwischen Bett und Wand waren ~80cm, aber da stand auch noch das Schuhregal, also vielleicht 50cm, es war schon ein Akt, die Herzdruckmassage unter den Bedingungen durchzuführen, aber Kopf überstrecken, Nase zu halten und beatmen, das bekam ich nicht auf die Kette. Total egal, sagte die Leitstelle. Wir ziehen die Herzdruckmassage durch. Und während ich weiter laut zählte, erklärte er mir, dass durch die Pumpbewegung auch Luft in die Lunge gelangt und man nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen weiß, dass diese völlig ausreicht, um das Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen.
Irgendwann sagte er mir, ich müsste jetzt schon die Sirene vom Rettungswagen hören, die seien bald da. Er hatte recht, ich hörte sie schon. Als sie ganz nah waren und ich draußen die Türen des Wagens hörte, meldete ich mich kurz ab, „Ich muss die Tür aufmachen gehen!“ – „Ja, machen Sie das!“
Ich riss die Wohnungstür auf, schrie „Zweite Etage rechts!“ herunter und raste zurück zu Tobias, um die Herzdruckmassage fortzuführen. Drei Sanis kamen ins Schlafzimmer geprescht, ich sprang auf und kletterte über Tobias aufs Bett, um Platz zu machen. Sie zogen ihn raus in den Flur und legten los.
„Ihr übernehmt?“ hörte ich den Mann am Telefon sagen. „Wir übernehmen!“ – „Viel Glück!“
Acht Mal wurde er geschockt. Ich sah zu. Ich war wie erstarrt. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich saß im Schlafzimmer auf dem Bett und starrte in den Flur. Eine junge Frau führte die Herzdruckmassage durch. Ein junger Mann hockte an Tobias Kopf. Ein anderer auf der anderen Seite, der irgendwelche Dinge anreichte.
Als die Sanitäter alles so weit eingerichtet hatten, kümmerte sich einer von ihnen darum, mich aus dem Schlafzimmer zu kriegen. Ich musste über Tobias Kopf steigen. Wurde Sachen gefragt. Medizinische Vorgeschichte und sowas. Ich antwortete sehr mechanisch. Dann schickte er mich an die Wohnungstür, um den Notarzt einzuweisen.
Als er kam, erklärte ich ihm kurz und knapp alle Eckdaten, während ich ihn in die Wohnung begleitete. Und dann stand ich einfach nur da und sah ihnen zu. Der Notarzt hing bald am Telefon, zwei Kliniken wollten ihn nicht anfahren lassen, weil sie voll seien, dann wurde er laut, er schrie „Verdammte scheiße, ich hab hier einen 35jährigen reanimationspflichtigen Patienten und ich brauche JETZT SOFORT Hilfe! DER IST FÜNFUNDDREIßIG!“
Der Notarzt nahm mich mit in unser Arbeitszimmer. Er setzte sich an Tobias Computer und wollte alles über dessen Medikamente wissen. Ob es sein könne, dass er sich suizidiert habe – nein, kann ich ausschließen. Kann man nie, sagte er. Ich schon, meinte ich. Aber ich zeigte ihm Tobias Medikamente, er recherchierte via Smartphone, worum genau es sich da handelt. Er kontrollierte die Mülleimer um zu checken, ob es nicht vielleicht doch eine Überdosis sein könne. Ehrlich, das hat mich geärgert, obgleich ich es nachvollziehen konnte. Ich war mir zu 100% sicher, dass Tobias sich nicht das Leben genommen hatte. Vor einem halben Jahr noch, ja, da hätte das sein können. Heute? Nein.
Der Notarzt war selbst nicht älter als wir. Vielleicht auch Mitte 30. Er war auch ein wenig überfordert mit der Situation, glaube ich.
Ich bat ihn um eine Einschätzung und er druckste herum. Sie tun alles, was sie können. „Eine realistische Einschätzung, bitte,“ sagte ich. „Realistisch betrachtet sieht es sehr schlecht aus.“
Das wusste ich vorher schon, ich bin nicht blöd, blind oder weltfremd. Aber ich musste das irgendwie von ihm hören. Um diese aufkommende Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut wird, irgendwie in die Schranken zu weisen und realistisch zu bleiben.
Die Feuerwehr kam, um Tobias über den Laubengang (das ist so eine Art „Zugangsbalkon“ zu unserer Wohnung) abzuleitern. Er sollte waagerecht transportiert werden, was über unser Treppenhaus unmöglich ist.
Ich stand in der Küchentür und sah dem Trubel zu. Den Feuerwehrchef kannte ich ganz flüchtig. Vor ein paar Wochen hatten wir die Feuerwehr gerufen, weil wir irgendwo im Haus Rauchmelder gehört, die Quelle aber nicht entdeckt hatten. Essen auf Herd vergessen => da haben wir den Nachbarn den Hintern gerettet, die schliefen nämlich trotz des Rauchmelderlärms besoffen im Wohnzimmer und atmeten Rauchgase ein.
Er war der erste, der so ein bisschen versuchte, mich „einzufangen“ und sich um mich zu kümmern. Er nahm mich mit ins Wohnzimmer und wollte, dass ich mich setze, aber das konnte ich nicht. „Ich kann mich doch nicht einfach hier hinsetzen, während die versuchen, meinen Mann zu reanimieren!“
„Aber Sie können auch nichts tun, wissen Sie. Und vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn Sie das alles sehen und diese Bilder mitnehmen.“
Ich habe ihm erzählt, dass wir zusammen immer die Serie „Feuer und Flamme“ gucken. Er sagte: „Wenn sowas in echt passiert, ist es leider ziemlich real, hm?“
Ich habe versucht, ein bisschen aufzuräumen im Flur, um Platz zu schaffen. Den Wäscheständer ins Wohnzimmer getragen, Schuhe aus dem Weg, das Sitzbänkchen von der Garderobe weggestellt. Dahinter kam jede Menge Staub zum Vorschein, das war mir peinlich. Verrückt, oder? Ich hab sogar kurz überlegt, mit dem Staubsauger anzurücken. Ja, solche Gedanken können einem durch den Kopf gehen, während der Ehemann einen Meter neben einem liegt und reanimiert wird.
Als sie ihn soweit transportfertig hatten, nahm der Feuerwehrchef mich wieder zur Seite. Er wollte mich ablenken, weil sie Tobias jetzt durch den Flur nach draußen trugen und ableiterten. Ich wollte das sehen, aber er verwickelte mich in ein Gespräch und ich sah nur aus der Ferne, was die Jungs da trieben. Wie sie ihn auf den Korb hievten und festhielten.
Als ich auf den Laubengang trat, sah ich, dass rundherum aus allen Fenstern Menschen nach draußen sahen. Sie alle sahen zu. Sie alle wollten wissen, was da vor sich geht. Ich wollte sie anbrüllen, dass sie wenigstens ihre Kinder von den Fenstern nehmen sollen. Warum stehen da Leute mit ihren kleinen Kindern am Fenster?! Vollidioten, dämliche Arschlöcher, dachte ich, lenkt doch eure Kinder ab!
„Soll ich Ihnen jemanden hierlassen?“ fragte mich der Notarzt. Ich habe verneint, ich wollte, dass alle verfügbaren Kräfte für Tobias da sind. Auch der Feuerwehrchef fragte, ob er einen seiner Leute bei mir lassen soll. Nein. Ich wollte nur wissen, was ich jetzt machen soll.
„Sie setzen sich jetzt erstmal hin und atmen tief durch. Und dann nehmen Sie sich das Telefon und rufen Ihre Familie an. Oder Freunde. Rufen Sie jemanden an, der Sie ins Krankenhaus fährt. In ca. einer Stunde, das ist eine gute Zeit.“