Beiträge von Tillyadora

    Es ist immer noch manchmal schwer. Es gibt Tage, da will ich nicht aufstehen, da kann ich nicht einfach zur Arbeit fahren – so wie heute. Ich versuche, das wahrzunehmen und diesem Bedürfnis zu folgen. Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr deshalb, denn wenn ich mich heute gut um mich kümmere, geht es mir morgen schon viel besser.


    Flashbacks und Intrusionen, Bilder von diesem Tag, aber auch von anderen Situationen aus Kindheit und Jugend kommen immer wieder mal auf. Heute besonders, weil ich mich so intensiv damit beschäftige. Ich kann damit heute gut umgehen, finde ich.


    Die Trauer um Tobias wird immer irgendwo ein Teil von mir sein. Aber einer, der mich nicht mehr erstarren lässt und völlig von den Füßen rammt. Meistens kann ich heute über die vielen schönen Momente, die wir miteinander verbracht haben lächeln und freue mich darüber, dass wir so eine tolle Zeit miteinander hatten.


    Ja, es tut weh, dass er nicht mehr da ist. Es tut weh, dass wir unser Wunschkind nie bekommen haben. Es tut weh, ohne ihn sein zu müssen. Es ist nicht fair, dass wir nur acht Jahre miteinander hatten. Wir wollten zusammen alt und schrumpelig werden und unsere Enkelkinder verziehen.


    Aber: Ich schaffe das. Heute bin ich auch alleine ein meistens ganz zufriedener Mensch. Ich habe gelernt, Entscheidungen für mich und nicht mehr für uns zu treffen. Unsere Wohnung wird mehr und mehr meine Wohnung. Die meisten seiner Sachen habe ich abgegeben, weil sich das richtig angefühlt hat. Ein paar Dinge hüte ich insgeheim wie einen Schatz. Und das ist okay. Das darf so sein.


    Ich spare Geld, um ein paar Möbel auszutauschen. Als „wir“ macht man ja den ein oder anderen Kompromiss. Aber das „wir“ ist vorbei, jetzt darf so langsam alles so werden, wie ich es möchte. Ich bin jetzt wichtig, denn ich lebe und ich möchte ein gutes Leben führen. Ich bin jetzt 36 Jahre alt und hab wohl noch ein paar Jährchen vor mir.


    Und auch, wenn ich rationalerweise kein Stück an Gott, Himmel und Co glaube, hoffe ich insgeheim ein bisschen, dass ich irgendwann wieder bei meinem Tobias sein darf. Und das dann bitte körperlos, schließlich bleibt der Kerl auf ewig 35.


    Mhm. Okay, das war jetzt verdammt viel Text. Ich musste mir das von der Seele tippen – vier Stunden lang. Jetzt werde ich mich um meine Tiere kümmern, die den ganzen Vormittag schon ganz aufgekratzt sind. Sie merken, dass ich aufgewühlt bin, die süßen Schlümpfe. Und dann räume ich auf. Darin bin ich nicht besonders gut. Ich lasse gern fünfe gerade sein.


    Ich wünsche euch alles Liebe, die, die ihr solch einen Verlust am eigenen Leib erfahren habt. Ein paar eurer Schicksale habe ich mir bereits durchgelesen, ich fühle mit euch und erkenne mich in vielen dieser geschilderten Gefühlslagen total wieder.


    Es wird anders mit den Jahren, sagt meine persönliche Erfahrung. Ich kann wieder glücklich sein. Ich kann wieder Leistung erbringen, die mir nach Tobias Tod gar nicht mehr möglich war. Ich kann jetzt für mich da sein und mir schöne Dinge gönnen. Und doch ist die Trauer manchmal da, so wie heute und dann gebe ich ihr ganz bewusst ihren Raum, damit sie sich austoben kann. Morgen oder am Wochenende, vielleicht auch erst nächste Woche wird sie mir wieder Platz machen.


    Vielen Dank fürs zu…hören? Lesen? Danke für den „Raum“ hier.


    Lieben Gruß


    Tilly

    Ich habe ein Video vom Küchenfenster aus gemacht, als der Rettungswagen davonfuhr. Ich rede da mit Tobias und erkläre ihm, was ihm passiert ist. Mit leiser, brüchiger Stimme. Und frage mich, wie ich das seinem Papa beibringen soll, der bereits seine Frau verloren hat und jetzt womöglich seinen jüngsten Sohn.


    Danach rief ich Tobias Bruder an, der fröhlich: „Hey Bro!“ sagte. Nein, nicht sein Bro, seine Sis, weil sein Bro grade mit Blaulicht in die Uniklinik gefahren wird. Er reagierte besonnen, besorgt, „Wir machen uns sofort auf den Weg, wir holen dich ab. Ich kümmer mich um Papa!“


    Ich packte Hals über Kopf eine Krankenhaustasche mit allem, was man so braucht. Wechselwäsche, Brille, Buch, Zahnbürste. Ich bin ein sehr rationaler Mensch. Das liegt ein bisschen auch in meiner Kindheit begründet – ich bin kein emotionsgeleiteter Typ Frau, mehr so der naturwissenschaftlich rationale Typ. Trotzdem wollte ich an dieser Hoffnung festhalten. Die Hoffnung war, dass durch die sofort gestartete Reanimation eben doch genug Sauerstoff im Hirn ankam, um es durchgehend zu versorgen. Die Hoffnung war, dass es den Leuten im Krankenhaus gelungen war, sein Herz neu zu starten und dass er wieder aufwachen würde. Müde, groggy, schockiert, aber lebendig und bei Sinnen.


    Wenig später saßen wir gemeinsam im Wartebereich vor der Herzintensivstation. „Sie werden bald abgeholt,“ wurden wir vertröstet, „er liegt wahrscheinlich noch auf dem Flur, das dauert noch einen Moment,“ sagte man uns.


    Bei den anderen machte sich Erleichterung breit. „Wenn er auf dem Flur liegt, dann gehts ihm ja schon wieder besser!“ waren sich Schwager und Schwiegervater einig.

    Und ich dachte: Wenn er auf dem Flur liegt, dann ist es vorbei. Bei dem, was ihm passiert ist, liegt man nicht auf dem Flur. Wenn man noch lebt, dann ist man mit tausend Kabeln an irgendwelche Geräte angeschlossen und wird intensiv behandelt. Ich sagte das aber nicht laut. Es war nicht meine Aufgabe, den anderen die Hoffnung zu nehmen. Sie waren nicht dabei. Sie wussten nicht, wie schlimm das war. Wie ernst die Lage. Wie denn auch?


    Man holte uns auf Station und brachte uns dort in ein Wartezimmer. Ein junger Arzt kam herein. Ich wusste Bescheid. War wie erstarrt. Er fragte, wer wir sind. Ehefrau, Vater, Bruder, Schwägerin. Es tue ihm sehr leid, aber er müsse uns leider mitteilen, dass Tobias nicht überlebt habe.


    Mein Schwiegervater brach in Tränen aus. Mein Schwager erstarrte. Wir waren alle überfordert mit der Situation. Logisch. Mein Schwiegervater wollte wissen, ob eine Organspende möglich sei – Tobi war Organspender. Ich sagte ihm, dass das nicht gehe, weil bereits zuviele Giftstoffe im Blut seien und Tobias zu lange Hirntod war. Der Arzt bestätigte das.


    Er klärte uns darüber auf, dass die KriPo den Leichnam begutachten und sich mit uns unterhalten müsse, danach könnten wir zu ihm. Er brachte uns höchstpersönlich etwas zu trinken und Beruhigungstabletten für meinen Schwiegervater.


    Ich musste da raus. Ich seilte mich ab. Runter in den Hof vors Krankenhaus, rauchen, auf den Parkplatz starren. Verstehen. Es ging mir einfach nicht in den Kopf. Das war so surreal. Ich konnte mir ein Leben ohne Tobias gar nicht vorstellen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nie mehr zurückkehren würde.


    Ich rief meine Mutter an. Ich erklärte ihr, was passiert war. Ihre erste Reaktion: „Kommst du jetzt endlich zurück nachhause?“


    Das hat mir den Rest gegeben. Das war der Tropfen auf den heißen Stein. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Da wurde mir bewusst, wie unempathisch diese Frau ist. Wie scheißegal ich ihr bin. Es ging nur um sie und darum, ob ich wieder zu ihr zurückkehren würde.


    Die Leute von der Kriminalpolizei waren sehr einfühlsam. Wir führten ein kurzes Gespräch und durften uns dann von Tobias verabschieden. Ich ging allein hinein – als erste. Er war kalt. Grau. Aufgedunsen. Er sah gar nicht richtig aus wie er selbst. Ich hielt seine Hand, strich über seine Finger. Sein Gesicht. Ich versuchte, mir alles zu merken. Wie er sich anfühlt, wie groß seine Hände im Vergleich zu meinen waren. Die Nägel seiner kleinen Finger waren größer als die meiner Daumen, das fand ich immer ganz witzig. Das wollte ich mir merken. Ich machte ein paar Fotos und schämte mich ein bisschen dafür. Aber ich wollte diese Fotos haben, um sie anschauen zu können, um ganz sicher zu sein, dass er wirklich tot ist.


    Ich ging raus und ließ die anderen einfach stehen. Ich sagte, ich brauche einen Moment für mich. Eine Krankenschwester begleitete mich raus vor die Station, weil ich den Weg vergessen hatte. Sie nahm mich einfach so in den Arm.


    Ich saß lange alleine unten vor der Klinik und starrte, bis die anderen kamen. Sie wollten mich mit zur Oma nehmen, aber ich bat darum, heimgefahren zu werden. Ich versicherte ihnen, allein klarzukommen. Ich erzählte ihnen von dem Lied, dass Tobias zu seiner Beerdigung spielen lassen wollte. Ja, tatsächlich haben wir uns über solche Dinge unterhalten. Wir haben sehr viel miteinander gesprochen. Jeden Tag, wenn wir gemeinsam gekocht und anschließend gegessen haben, haben wir uns alles erzählt, was uns durch den Kopf ging. Immer. Seit Jahren.


    Und dann war ich allein. Mein bester Freund war tot und ich blieb allein zurück. Ich habe viel geschrieben zu der Zeit. So eine Art Tagebuch. 122 Seiten hat es, am Computer geschrieben. Darin steht alles, was in den folgenden Wochen so passiert ist. Jeder noch so krude Gedanke hat seinen Weg dort hineingefunden.


    Am nächsten Morgen saß ich in aller herrgottsfrühe nach durchwachter Nacht bei seinem Psychiater vor der Tür. Ich wusste, ich brauchte Hilfe. Ich wusste, ich würde das ohne Hilfe nicht überleben. Alles in mir schrie danach, mich umzubringen. Das Lenkrad umzureißen. Oder bei rot über die Ampel zu marschieren. Ganz spontan kamen diese verkackten Eingebungen. „Mach einfach jetzt!“, „Da kommt der Bus, du musst nur n Schritt nach vorne machen.“


    Sein Psychiater brach in Tränen aus, als ich ihm erzählte, was passiert war. Zwei Wochen lang zitierte er mich täglich in seine Praxis. Nach Feierabend, unentgeltlich, einfach nur, um mir einen verbindlichen Termin für den Tag zu geben und sicherzugehen, dass ich überlebe. Er hat mir einen Therapieplatz bei einem Kollegen besorgt, als er merkte, dass es nicht besser wird.


    Ich war knapp zwei Jahre lang krankgeschrieben. Ich hatte wahnsinniges Glück mit meinem Therapeuten, einem Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie, der total auf meiner Wellenlänge ist, ein zynischer, provokativer Arsch sein kann, der mich versteht, begleitet, ertragen kann, mir Grenzen steckt, im richtigen Moment aber auch mal die Grenzen vergisst und der mir sehr geholfen hat, die Vergangenheit zu verarbeiten und das neue Leben zu akzeptieren und neue Ziele zu stecken. Ich habe gelernt, mich in Echtzeit zu reflektieren und mich selbst gut zu behandeln.


    Seit Juli letzten Jahres arbeite ich wieder Vollzeit. Ich lebe mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, ich war in drei verschiedenen Kliniken, um mich zu stabilisieren und ich habe mich ins Leben zurück gekämpft.


    Ich habe gelernt, besser mit mir selbst umzugehen und mir gut zu tun. Ich habe mir drei wunderbare Katzen angeschafft, die mich auf Trab halten und vor allem in der Anfangszeit mein Lebensanker waren. Beruflich hab ich letztes Jahr durchgestartet, erst vorgestern hat meine Chefin mir meine Höhergruppierung mitgeteilt und ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut.

    Ich musste prüfen, ob Tobias Herz schlägt. Der Herzschlag, dem ich praktisch jede Nacht in den vergangenen acht Jahren beim Schlagen zugehört hatte, schlug nicht mehr. Ich hörte es nicht. Ich presste mein Ohr auf Tobias Brust und nahm überhaupt nichts wahr. Kein Puls tastbar.


    Ich hörte dem Mann von der Leitstelle gar nicht richtig zu. Ich wusste, ich muss ihn aus dem Bett holen. Herzdruckmassage geht nur mit hartem Untergrund. Knappe 90kg Mann aus dem Bett wuchten – keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Ich habe darauf geachtet, seinen Kopf zu halten, um ihn nicht schwerer zu verletzen.


    Ich habe sein Shirt hochgezogen und losgelegt. Herzdruckmassage. Im Hinterkopf der Song „Stayin Alive“. Langsam drang auch die Stimme vom Mann am Telefon wieder zu mir durch. Ich müsse ihn jetzt vom Bett auf den Boden ziehen und anfangen. „Ich bin schon dran!“ hab ich gesagt, „Ich führe die Herzdruckmassage durch!“


    Mindestens 6cm tief eindrücken, sagte er mir, 30 mal drücken, dann beatmen. Bitte laut mitzählen, er bleibe am Telefon, er sei da, bis Hilfe kommt.


    Beatmen ging nicht. Zwischen Bett und Wand waren ~80cm, aber da stand auch noch das Schuhregal, also vielleicht 50cm, es war schon ein Akt, die Herzdruckmassage unter den Bedingungen durchzuführen, aber Kopf überstrecken, Nase zu halten und beatmen, das bekam ich nicht auf die Kette. Total egal, sagte die Leitstelle. Wir ziehen die Herzdruckmassage durch. Und während ich weiter laut zählte, erklärte er mir, dass durch die Pumpbewegung auch Luft in die Lunge gelangt und man nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen weiß, dass diese völlig ausreicht, um das Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen.


    Irgendwann sagte er mir, ich müsste jetzt schon die Sirene vom Rettungswagen hören, die seien bald da. Er hatte recht, ich hörte sie schon. Als sie ganz nah waren und ich draußen die Türen des Wagens hörte, meldete ich mich kurz ab, „Ich muss die Tür aufmachen gehen!“ – „Ja, machen Sie das!“

    Ich riss die Wohnungstür auf, schrie „Zweite Etage rechts!“ herunter und raste zurück zu Tobias, um die Herzdruckmassage fortzuführen. Drei Sanis kamen ins Schlafzimmer geprescht, ich sprang auf und kletterte über Tobias aufs Bett, um Platz zu machen. Sie zogen ihn raus in den Flur und legten los.


    „Ihr übernehmt?“ hörte ich den Mann am Telefon sagen. „Wir übernehmen!“ – „Viel Glück!“


    Acht Mal wurde er geschockt. Ich sah zu. Ich war wie erstarrt. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich saß im Schlafzimmer auf dem Bett und starrte in den Flur. Eine junge Frau führte die Herzdruckmassage durch. Ein junger Mann hockte an Tobias Kopf. Ein anderer auf der anderen Seite, der irgendwelche Dinge anreichte.


    Als die Sanitäter alles so weit eingerichtet hatten, kümmerte sich einer von ihnen darum, mich aus dem Schlafzimmer zu kriegen. Ich musste über Tobias Kopf steigen. Wurde Sachen gefragt. Medizinische Vorgeschichte und sowas. Ich antwortete sehr mechanisch. Dann schickte er mich an die Wohnungstür, um den Notarzt einzuweisen.


    Als er kam, erklärte ich ihm kurz und knapp alle Eckdaten, während ich ihn in die Wohnung begleitete. Und dann stand ich einfach nur da und sah ihnen zu. Der Notarzt hing bald am Telefon, zwei Kliniken wollten ihn nicht anfahren lassen, weil sie voll seien, dann wurde er laut, er schrie „Verdammte scheiße, ich hab hier einen 35jährigen reanimationspflichtigen Patienten und ich brauche JETZT SOFORT Hilfe! DER IST FÜNFUNDDREIßIG!“


    Der Notarzt nahm mich mit in unser Arbeitszimmer. Er setzte sich an Tobias Computer und wollte alles über dessen Medikamente wissen. Ob es sein könne, dass er sich suizidiert habe – nein, kann ich ausschließen. Kann man nie, sagte er. Ich schon, meinte ich. Aber ich zeigte ihm Tobias Medikamente, er recherchierte via Smartphone, worum genau es sich da handelt. Er kontrollierte die Mülleimer um zu checken, ob es nicht vielleicht doch eine Überdosis sein könne. Ehrlich, das hat mich geärgert, obgleich ich es nachvollziehen konnte. Ich war mir zu 100% sicher, dass Tobias sich nicht das Leben genommen hatte. Vor einem halben Jahr noch, ja, da hätte das sein können. Heute? Nein.


    Der Notarzt war selbst nicht älter als wir. Vielleicht auch Mitte 30. Er war auch ein wenig überfordert mit der Situation, glaube ich.


    Ich bat ihn um eine Einschätzung und er druckste herum. Sie tun alles, was sie können. „Eine realistische Einschätzung, bitte,“ sagte ich. „Realistisch betrachtet sieht es sehr schlecht aus.“


    Das wusste ich vorher schon, ich bin nicht blöd, blind oder weltfremd. Aber ich musste das irgendwie von ihm hören. Um diese aufkommende Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut wird, irgendwie in die Schranken zu weisen und realistisch zu bleiben.


    Die Feuerwehr kam, um Tobias über den Laubengang (das ist so eine Art „Zugangsbalkon“ zu unserer Wohnung) abzuleitern. Er sollte waagerecht transportiert werden, was über unser Treppenhaus unmöglich ist.


    Ich stand in der Küchentür und sah dem Trubel zu. Den Feuerwehrchef kannte ich ganz flüchtig. Vor ein paar Wochen hatten wir die Feuerwehr gerufen, weil wir irgendwo im Haus Rauchmelder gehört, die Quelle aber nicht entdeckt hatten. Essen auf Herd vergessen => da haben wir den Nachbarn den Hintern gerettet, die schliefen nämlich trotz des Rauchmelderlärms besoffen im Wohnzimmer und atmeten Rauchgase ein.


    Er war der erste, der so ein bisschen versuchte, mich „einzufangen“ und sich um mich zu kümmern. Er nahm mich mit ins Wohnzimmer und wollte, dass ich mich setze, aber das konnte ich nicht. „Ich kann mich doch nicht einfach hier hinsetzen, während die versuchen, meinen Mann zu reanimieren!“


    „Aber Sie können auch nichts tun, wissen Sie. Und vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn Sie das alles sehen und diese Bilder mitnehmen.“


    Ich habe ihm erzählt, dass wir zusammen immer die Serie „Feuer und Flamme“ gucken. Er sagte: „Wenn sowas in echt passiert, ist es leider ziemlich real, hm?“


    Ich habe versucht, ein bisschen aufzuräumen im Flur, um Platz zu schaffen. Den Wäscheständer ins Wohnzimmer getragen, Schuhe aus dem Weg, das Sitzbänkchen von der Garderobe weggestellt. Dahinter kam jede Menge Staub zum Vorschein, das war mir peinlich. Verrückt, oder? Ich hab sogar kurz überlegt, mit dem Staubsauger anzurücken. Ja, solche Gedanken können einem durch den Kopf gehen, während der Ehemann einen Meter neben einem liegt und reanimiert wird.


    Als sie ihn soweit transportfertig hatten, nahm der Feuerwehrchef mich wieder zur Seite. Er wollte mich ablenken, weil sie Tobias jetzt durch den Flur nach draußen trugen und ableiterten. Ich wollte das sehen, aber er verwickelte mich in ein Gespräch und ich sah nur aus der Ferne, was die Jungs da trieben. Wie sie ihn auf den Korb hievten und festhielten.


    Als ich auf den Laubengang trat, sah ich, dass rundherum aus allen Fenstern Menschen nach draußen sahen. Sie alle sahen zu. Sie alle wollten wissen, was da vor sich geht. Ich wollte sie anbrüllen, dass sie wenigstens ihre Kinder von den Fenstern nehmen sollen. Warum stehen da Leute mit ihren kleinen Kindern am Fenster?! Vollidioten, dämliche Arschlöcher, dachte ich, lenkt doch eure Kinder ab!


    „Soll ich Ihnen jemanden hierlassen?“ fragte mich der Notarzt. Ich habe verneint, ich wollte, dass alle verfügbaren Kräfte für Tobias da sind. Auch der Feuerwehrchef fragte, ob er einen seiner Leute bei mir lassen soll. Nein. Ich wollte nur wissen, was ich jetzt machen soll.


    „Sie setzen sich jetzt erstmal hin und atmen tief durch. Und dann nehmen Sie sich das Telefon und rufen Ihre Familie an. Oder Freunde. Rufen Sie jemanden an, der Sie ins Krankenhaus fährt. In ca. einer Stunde, das ist eine gute Zeit.“

    Beruflich hatte ich es nicht so richtig gut getroffen. Cholerischer Chef, viel Stress, schlechte Bezahlung, das setzte mir ziemlich zu. Die Doppelbelastung mit dem Kinderwunsch war nicht ganz ohne. 2019 entdeckte ich eine Stellenausschreibung im öffentlichen Dienst und verschickte kurzerhand meine eilig überarbeiteten Bewerbungsunterlagen, wurde auch prompt zum Gespräch geladen und zack: Ich hatte die Stelle! Mega!


    Auch Tobias orientierte sich um. Er arbeitete bereits im öffentlichen Dienst, suchte aber nach einer neuen Herausforderung und fand diese auch! Es klingt ein bisschen verrückt, aber tatsächlich haben wir beide am 1.07.2019 unsere jeweils neuen Stellen angetreten.


    Ich merkte bald, dass es ihm nicht so gut geht. Die neue Stelle verunsicherte ihn sehr. Er hatte Versagensängste, war nicht sicher, ob er das alles gut meistern könne. Seine Depression meldete sich zum ersten Mal während unserer Beziehung zurück. In Behandlung war er immer, machte alle drei bis sechs Monate einen Anstandsbesuch bei seinem Psychiater, Tabletten nahm er auch schon immer, aber in sehr geringer Dosis, nur zur Sicherheit, als Backup.


    Plötzlich hatte er morgens Panikattacken, wenn er zur Arbeit musste. Er erkannte das gar nicht so. Er dachte, er sei vielleicht krank, weil ihm schlecht wurde, sein Magen rumorte, er Schweißausbrüche hatte. Eines Morgens – er hatte sich eben krankgemeldet – fragte er mich, was denn nur mit ihm los sei. Und ich sagte ihm: „Schnucki, ich glaube, du hast Panikattacken. Es geht dir immer morgens so schlecht, wenn du zur neuen Arbeit fahren musst. Ruf doch heute mal bei deinem Psychiater an, ich glaube, es ist vielleicht doch mal wieder Zeit für einen Termin, hm?“


    Und das tat er. Er schlidderte in eine depressive Episode, obwohl er von Anfang an dagegen ankämpfte. Manchmal lässt sich das nicht verhindern. Ich stand ihm bei. Ich habe mich daheim um alles Wichtige gekümmert und habe alles übernommen, um ihm Zeit für sich zu geben. Er blieb wochenlang daheim.


    Das war eine schwere Zeit. Ich im neuen Job, Einarbeitungszeit, 6 Monate Urlaubssperre wegen der Probezeit. Zeitweise wusste ich nicht, wie ich das alles managen soll. Aber ich bin stark. Ich bin eine Kämpferin. War ich schon immer. Ich habe durchgezogen!


    Gegen Weihnachten 2019 ging es ihm so langsam besser. Die Tablettendosis wurde schrittweise erhöht und ich merkte deutlich, dass er so langsam wieder der Alte wurde. Auch in seinem neuen Job – ohne Probezeit übrigens, er wurde ja versetzt, nicht neu eingestellt – lief es jetzt besser. Die Ängste hatte er im Griff und er ging sehr offen mit seiner Erkrankung um, deshalb erntete er viel Verständnis, Hilfestellung und auch Lob für die Aufgaben, die er erledigte. Ein sehr gesundes, wohlwollendes Arbeitsklima, das half ihm!


    Im Januar feierte ich meinen 33. Geburtstag. Seit Wochen bereitete ich das vor. Ich hatte noch nie eine richtige Party geschmissen. Die letzte Zeit war so anstrengend und nervenaufreibend gewesen, ich wollte mir etwas Gutes tun! Ich bastelte viel, bestellte coole Deko-Accressoires, ich ging total in meiner Planung auf. Eine Harry Potter-Party! Megacool.


    Ich dekorierte die ganze Wohnung um, hängte die Bilder im Wohnzimmer ab und tauschte sie aus gegen selbst gebastelte Hexenbesen (Bambus 2020! :D), Plakate für Hermines „S.P.E.W“ (society for the promotion of elfish welfare) und dergleichen, für jeden Fan ein wahres Kicher-Fest! Und wer zur Toilette musste, wurde von der heulenden Myrte begrüßt, die im Klodeckel klebte. Mhm, das war toll!


    Dennoch merkte ich, dass mir die letzten Monate echt viel Kraft geraubt hatten. „Ich glaube, ich kratze so langsam am Burnout!“ hab ich Tobias gesagt. Er hat mich zum Arzt geschickt. Ich hatte mich in letzter Zeit wirklich sehr verausgabt, um ihm beizustehen. Jetzt war ich selbst mal dran, jetzt mussten wir mich wieder auf die Füße kriegen. Wir legten den Termin so, dass er nach Feierabend dazustoßen konnte. Er wollte gerne dabei sein und unserer Hausärztin erklären, wie viel ich für ihn gemacht hatte, er wusste nämlich, dass ich bei Ärzten kaum die Zähne auseinander kriege.


    Sie schrieb mich prompt krank. Ich solle mich mal ein bisschen ausruhen, die Füße hochlegen, etwas für mich selbst machen. Das tat gut!


    Am 02.02.2020 – ein Sonntag – stand ich wie immer früh auf. Ich bin kein Langschläfer, mir reichen meistens so 6 bis 7 Stunden. Tobias stieß so gegen neun dazu. Wir streamten die heute-Show, quatschten und kicherten. Tobias frühstückte seine ungesunden Belmandel-Toasts, wie jeden Sonntag und ich nahm anschließend seinen Teller mit in die Küche.


    Ich weiß noch, wie ich in der Küche stand und überlegte, ob ich direkt eine rauchen gehe oder noch eben schnell die Spülmaschine aus und wieder einräume. Ganz ehrlich: An 99 von 100 Tagen hätte ich zuerst eine geraucht. An diesem Sonntag jedoch entschied ich, noch eben schnell die Maschine auszuräumen.


    Ich klaubte grade die Teelöffelchen aus dem Besteckkorb, als Tobias „Schatz?!“ rief. Es klangt nicht ungewöhnlich, nicht alarmierend oder so. Ich wähnte ihn im Bad, das Badewasser lief nämlich schon, er wollte ein Erkältungsbad nehmen, weil er ein Kratzen im Hals hatte.


    „Momehent!“ flötete ich. Ich hatte noch nicht alle Löffelchen beisammen.


    „SOFORT!“


    Da sackte mir das Herz in die Hose. Ich bin gerannt. Er hatte sich eben aufs Bett fallen lassen, atmete schwer. Ich wusste nicht, was los ist. Er antwortete mir nicht, sah mich nur ängstlich an.


    Als Kind habe ich sehr gerne „Notruf“ geschaut – mit Hans Meiser. Ich funktionierte. Ich flitzte ins Wohnzimmer und wählte auf dem Weg zurück bereits die 112. Name, Anschrift, Problem.


    Er atmete so schwer! Vielleicht ein Asthmaanfall? Dann müsse er sich auf den Bauch drehen, sagte der Mann von der Leitstelle. Tobias versuchte das, aber er schaffte es nicht, sich zu drehen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und seine Atmung veränderte sich. Wurde tiefer. Wurde… anders.


    Das hörte auch der Mann von der Leitstelle. Er wusste früher, was da passiert, als ich. Wenn ein Herz aufhört zu schlagen, dann pumpt es kein mit Sauerstoff angereichertes Blut mehr ins Gehirn. Und ein Gehirn, das nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird, das versucht durch tiefe Atmung gegenzusteuern. Beim Ausatmen flatterten Tobias Lippen, ich glaube, das war es, was der Mann am Telefon wahrnahm. Er schaltete sofort.

    Hallo zusammen,


    ich weiß gar nicht, warum ich nach einem Trauerforum gesucht habe. Es war so ein Impuls, irgendwie. Ich saß mit dem Smartphone draußen und habe danach gegoogelt. Dabei geht es mir in letzter Zeit ganz gut. Ich bin stabil, ich arbeite wieder, ich habe die mir zustehenden Therapiestunden aufgebraucht und ich versuche täglich, gut zu mir selbst zu sein und mein Leben nach meinen Wünschen zu gestalten.


    Ihr kennt mich nicht, ich habe noch nie hier rein geschrieben, noch nie zuvor nach solch einem Trauerforum gegoogelt. Ich lege einfach mal los. Achso: Ich habe den Text eben in Word vorgeschrieben, um euch nicht mit tausend Rechtschreibfehlern zu belasten und jetzt beim Einstellen habe ich gemerkt, dass er viel zu lang ist und ich ihn aufteilen muss. Bitte seid mir nicht böse.


    Es ist jetzt etwas über drei Jahre her, dass Tobias gestorben ist. Ich möchte gerne von ihm erzählen. Auch von mir. Von uns beiden.


    Ich habe mich heute krankgemeldet, weil das Thema gerade so dringlich in meinem Kopf herumschwirrt und ich ihm Beachtung schenken mag, denn das wird schon seinen Grund haben, warum es gerade jetzt aufkommt, wo es mir in den letzten Wochen doch eigentlich so gut geht.


    Unsere erste Begegnung war von meiner Seite aus „Liebe auf den ersten Blick“. Ich war fast 25 Jahre alt und machte grade – etwas später, als andere – die ersten Schritte in ein eigenständiges Leben. Das heißt: Zuvor war ich zuhause in meinem Elternhaus, habe meine psychisch schwer erkrankte Mutter begleitet und ertragen, kämpfte meinerseits selbst mit Depressionen und einer – wie ich heute weiß – posttraumatischen Belastungsstörung, schaffte es aber endlich, auf die Füße zu kommen und für mich zu kämpfen.


    Ich wollte raus von zuhause. Weg von ihr, weg von ihren Problemen, die sie mir ein Leben lang übergestülpt und zu meinen gemacht hat.


    Wir lernten uns in einem Berufsförderungswerk kennen – in der Orientierungsmaßnahme, einer Art Vorbereitungskurs.

    Das Berufsförderungswerk ist eine Ausbildungsstätte für Menschen mit Behinderungen unterschiedlichster Art, dort werden Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben angeboten, wie es so schön heißt. Zu Deutsch: Dort kann man eine Ausbildung oder Umschulung machen und einen neuen Beruf erlernen, der einen dazu befähigt, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten.


    Ich selbst hatte noch nie auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Seit meinem Realschulabschluss hatte ich nichts mehr auf die Kette gekriegt. Tobias schon, aber durchgehalten hatte er nichts – er hatte seit seiner Kindheit unter Depressionen gelitten, die immer wieder aufflammten.


    Und da saßen wir uns nun gegenüber. Tobias, ein total knuffiger Kerl, intelligent, sarkastisch, zynisch, total witzig, immer einen krassen Spruch auf den Lippen, das schönste verschmitzte Grinsen ever im Gesicht. Und ich, die ich im letzten Jahr auf eigene Faust über 60kg abgenommen hatte, noch gar nicht wusste, mit meiner neuen Erscheinung umzugehen, eher etwas schüchtern, zurückhaltend und… schockverliebt. Ich ging an diesem ersten Tag im Berufsförderungswerk auf mein Zimmer – Internat – und schrieb einem Kumpel, dass ich verliebt bin und das Gefühl habe, den Mann meines Lebens getroffen zu haben.


    Ziemlich überstürzt? Mag sein. Ich hatte dieses Gefühl. Dieses „das ist der richtige“-Gefühl. Er roch so unfassbar gut. Nicht viele von uns wohnten im Internat. Er schon. So trafen wir uns morgens zum Frühstück und abends zum Abendessen. Und wir lernten uns kennen. Ich schrieb ihn bei Facebook an, um besser in Kontakt zu kommen. Wir trafen uns nachmittags, schauten die Simpsons, lernten einander besser kennen.


    Wir redeten so unglaublich viel miteinander. Das war schön! Und eines abends – am 25.01.2012 – lagen wir gemeinsam auf meinem Bett, sahen „Das Leben des Brian“ im Fernsehen und er legte den Arm um mich. Ich traute mich kaum, meinen Kopf auf seiner Schulter abzulegen, weil ich Angst hatte, er sei zu schwer! Total niedlich im Rückblick.


    Der erste Kuss folgte prompt in der Werbung. Wir sahen uns tief in die Augen, die Luft knisterte regelrecht – und dieser wunderbare Kerl fragte: „Darf ich?“


    Mein Gott, ich muss heute noch kichern, weil das so süß war! :D


    Fortan waren wir zusammen. Anfangs konnten wir das selbst noch nicht so richtig glauben. Wir hatten Angst, dass wir uns verlaufen, dass es vielleicht doch nicht klappt mit uns, Angst, dass der jeweils andere feststellt, dass diese Beziehung doch nichts für ihn ist.


    Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichten, wir lachten und weinten miteinander, wir wuchsen zusammen. Wir entschieden uns jeweils für einen Ausbildungszweig und schöpften aus unserer Beziehung genug Kraft und Motivation, um diesen Weg gemeinsam zu bestreiten.


    Zwei Jahre lang lebten wir gemeinsam auf 12m² Wohnfläche im Internat, meisterten unsere Ausbildungen mit Bravour und super Noten, fanden anschließend beide schnell Arbeit und zogen in unsere erste gemeinsame Wohnung in seiner Heimatstadt.


    Wir haben unser Leben zusammen gemeistert. Wir hatten beide so unsere Probleme und Baustellen, aber als Team konnten wir gut damit umgehen. Nie zuvor hat mir ein Mensch so viel Sicherheit gegeben wie Tobias. Umgekehrt war das auch so. Sicherheit, Stabilität, Liebe, Geborgenheit, Vertrauen. Wir hatten eine schöne Zeit!


    Im September 2016 haben wir geheiratet. Das war traumhaft! Unser Standesbeamter war ein guter Freund von Tobias Bruder, der sich wahnsinnig viel Mühe gegeben hat, uns eine total individuelle standesamtliche Hochzeit zu ermöglichen. Kirche wollten wir nämlich nicht, so war die standesamtliche Trauung ein richtiges Highlight und die anschließende Feier war grandios. Wirklich – es hätte nicht besser sein können!


    Es war nicht alles völlig rosarot und glitzerfunkelnd. Unser Kinderwunsch erfüllte sich einfach nicht, deshalb forschten wir etwas nach und erfuhren, dass wir auf natürlichem Weg nicht schwanger werden können. Das machte uns beiden zu schaffen. Tobias noch etwas anders als mir, denn er fühlte sich schuldig. Wir wechselten die Krankenkasse für eine Kostenübernahme der Kinderwunschbehandlung, gingen in die Klinik, ließen uns beraten und untersuchen. Dann eben auf nicht-natürlichem Weg! (... muss unterbrechen wegen der 10.000-Zeichen-Begrenzung)