Einen schönen Abend Euch allen!
Liebe Chrisu,
ich möchte Dir mein herzliches Beileid mitteilen; ich fühle aus meinem tiefsten Inneren mit Dir. Auch wenn ich selbst mit dem Tod auf dieser Ebene noch keinen direkten Kontakt hatte (bin noch kinderlos), so habe ich doch Seite an Seite mit meiner Tante dieses Tal durchschritten. Ich habe schon früh gelernt, wie schmerzhaft das Leben sein kann. Von Gerechtigkeit ist keine Rede. Aber nur eine einzige Hoffnung macht es erträglich, mit diesen Verlusten umzugehen: die Hoffnung, dass wir uns alle, wenn unsere Zeit im Hier abgelaufen ist, "drüben" wieder sehen. Als D. gestorben ist habe ich am Abend mit meiner Oma "geredet" und sie gebeten, ihn in Empfang zu nehmen, damit er "drüben" nicht alleine ist. Denn im Jetzt und Hier können wir Freunde nur A. aktiv beistehen.
Ich arbeite in einer Anwaltskanzlei im Zivilbereich. Einer der schlimmsten Fälle, der mir selbst sehr zu Herzen ging, war ein Verkehrsunfall, bei dem vor ca. 3 Jahren fünf Jugendliche (alle unter 20 Jahren) in einem Auto aufgrund Fahrerverschuldens verunglückt sind. Nur 2 der 5 Insassen haben überlebt. Wir haben die Ansprüche der Eltern der Verunglückten gegenüber der Versicherung durchgesetzt. Jedesmal, wenn ein Elternteil anrief, wurde mir schon beim Klang des Namens ganz mulmig. Die ärgste Erfahrung in diesem Zusammenhang war, dass nach 18 Uhr in unserer Kanzlei eine Besprechung mit allen Eltern der Verunglückten stattgefunden hat. Ich hatte an diesem Abend Spätdienst und habe die Eltern in Empfang genommen, bis der Chef Zeit hatte. Ich habe selten in meinem Leben 6 so gebrochene Menschen gesehen. Es kostete mich große Anstrengung, ruhig zu bleiben. Alle Eltern (auch die Väter) haben vor meinen Augen geweint. Ich tat mir so schwer, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen, obwohl ich keinen der Jugendlichen und keinen von den Eltern persönlich kannte. Aber der Schmerz war in diesem Moment so greifbar, dass niemand hätte daran vorbeisehen können.
Aus Erfahrung von meiner Tante weiß ich, dass der Verlust eines Kindes immer schmerzen wird. Es gibt die schlimmen Tage im Jahr (Geburtstag, Namenstag, Todestag, Weihnachten etc.), an denen der Schmerz genau so stark ist, wie am Tag des Unglücks. Aber sie hat nach all den Jahren einen Weg gefunden, mit der Tatsache, dass C. nicht mehr körperlich anwesend ist, zu Leben. Dir, liebe Chrisu, wünsche ich, auch eben diesen - sicherlich steinigen und langen - Weg zu finden und die Kraft, diesen Weg zu beschreiten.
Vielleicht findet sich ein oder mehrere Begleiter, die diesen Weg zumindest ein Stück mit Dir gemeinsam gehen wollen und können. Hier, in diesem Forum, bist Du sicher schon mal richtig. Ich denke, uns alle verbindet unsere Geschichte. Wenn Du willst, so werde ich Dich auf der Suche nach diesem Weg oder direkt darauf ein Stück (und sei es nur schriftlich) begleiten. Oft ist es einfacher, mit Fremden, die aber ihr Innerstes preisgeben, zu sprechen, als mit "Freunden & Bekannten", die alle keinen wirklichen Bezug zur aktuellen Trauer haben. Manchmal fühlt man sich, als würde man gemieden; fast so, als hätte man eine ansteckende Krankheit. Aber wir sind nicht krank. Wir sind im tiefsten Inneren verletzt und starren auf die Lücke, die unsere Liebsten hinterlassen haben. Vielleicht haben viele einfach auch nur Angst, selbst über ihre eigene oder die Sterblichkeit ihrer Liebsten nachzudenken und ziehen sich deshalb zurück.
Aber bei meiner Tante und mir ist das exakte Gegenteil passiert. Durch den Tod von C. kam ich ihr so nahe, wie ich ihr mein Leben lang zuvor noch nie war. Jede Münze hat 2 Seiten.
Liebe Chris!
Du bringst die Situation mit meiner Oma fast auf den Punkt. Meine Oma war ein Paradebeispiel für einen "gefühlsmäßigen Kriegskrüppel". Sie konnte nicht mal ihre eigenen Kinder an sich heranlassen. Als meine Mama mit mir schwanger war, hat sie meine Mama soz. "verstoßen", weil mein Erzeuger und meine Mama nicht verheiratet waren. Sie wollte mit ihr und dem "Bastard" (also mir) nichts zu tun haben. Als ich dann auf der Welt war, hat sie in ihrer üblichen barschen Art festgestellt, dass jetzt, wo ich da bin, ich nicht mehr verleugnet werden kann. Sie hatte auch eine extrem schlechte Beziehung zu meiner Mama. Soweit ich weiß, hat meine Oma meiner Mama nicht einmal gesagt, dass sie sie lieb hat. Meine Mama hat darunter ihr Leben lang gelitten und um Omas Liebe gebuhlt. Leider vergebens.
Nur ich war da eine Ausnahme. Solange andere Menschen dabei waren, gab sich meine Oma auch mir gegenüber extrem schroff. Aber sobald wir alleine waren, konnte ich alles von ihr haben. Ich war die Einzige, die sie umarmen und küssen durfte. Sie liebte mich, das weiß ich. Im Alter wurden aber leider die Diskrepanzen zwischen Oma und Mama immer schlimmer. Oma hat meine Mama als eine Art "Leibeigene" gesehen und sie jeden Tag rumkommandiert, als hätte meine Mama kein eigenes Leben. Und weil meine Mama eine ganz liebe Person ist und sowieso ständig um Omas Liebe förmlich bettelte, hat sie sich von der alten Dame zum Teil richtig schikanieren lassen. Das ging manchmal so weit, dass ich mit Oma ein "ernstes Wort" gesprochen habe.
Ein Jahr, bevor Oma gestorben ist, war es besonders schlimm. Meine Oma hat alleine in einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss eines Mietsblocks gewohnt. Ihr Essen bekam sie von Essen auf Rädern. Oma war zwar noch recht rüstig, aber halt stur. Demnach war für den Rest meine Mama zu Tag und Nacht zuständig. Meine Oma war Abhängig von Abführmitteln. D.h. sie hat täglich (!) Abführmittel eingenommen und entsprechend körperlich darauf reagiert. Das hatte zur Folge, dass meine Mama zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufbar sein musste, falls für Oma mal der Weg zum Klo in ihrer 2-Zimmer-Wohnung zu weit war. Das alleine war noch nicht das Übelste. Sie hat auch noch selbst gebügelt, obwohl meine Mama ihr x-mal angeboten hat, das für sie zu übernehmen. Aber nachdem sie stur war, hat sie drauf bestanden, das selbst zu tun. Eines Tages wurde sie beim Bügeln ohnmächtig und ist gestürzt - mit dem Gesicht aufs heiße Bügeleisen. Als sie wieder zu sich kam, hat sie meine Mama angerufen und sie aufgefordert zu kommen, weil ihr Knie und Ellenbogen vom Sturz weh getan haben. Vom Gesicht sagte sie nichts. Als meine Mama in die Wohnung kam, hat sie fast der Schlag getroffen. Meine Oma musste daraufhin ins Krankenhaus und wurde 3 x bezüglich Hauttransplantationen operiert. Da war für uns klar, dass sie nicht mehr alleine bleiben kann. Die Entscheidung, dass sie ins Heim umziehen musste, war schwer zu treffen und doch unumgänglich. Und nachdem ich die einzige war, die ein wenig Einfluss auf sie hatte, musste ich ihr vermitteln, dass sie nicht mehr alleine wohnen konnte.
Und genau das quält mich. Ich weiß, dass sie im Heim unglücklich war. Sie vermisste ihre Wohnung und die Nähe zu uns. Sie hat meine Mama oft angebettelt, mitkommen zu dürfen. Aber es war immer klar, dass das nicht umsetzbar ist. Ich habe das Gefühl, Oma hat beschlossen, im Heim nicht mehr Leben zu wollen. Und dafür gebe ich mir zum Teil die Schuld. Vielleicht hätten wir damals eine andere Lösung finden müssen. Vielleicht hatte sie das Gefühl "abgeschoben" worden zu sein... Diese Gedanken quälen mich immer noch.
Ähnliche Gedanken kommen jetzt auch bezüglich D. hoch. Warum haben wir die beiden nich öfter in der Großstadt besucht? Warum war uns der Weg (120 km einfach) immer zu anstrengend oder wir zu faul? Mein Freund war vor ein paar Wochen für fast 2 Monate die Woche über in der Stadt. Hatte aber jeden Abend müde im Hotel nur TV gesehen. Er hat am Telefon immer davon gesprochen, D. anzurufen und mit ihm auf ein Bier zu gehen. Getan hat er es nicht. Auch er wirft sich vor, dass er die Möglichkeit nicht beim Schopf gepackt hat. Natürlich ist uns klar, dass wir alle eben nicht wissen, was die Zukunft bringt. Sonst hätte man wohl vieles anders gemacht.
Es ist an der Zeit zu lernen, dass es nicht gut ist, immer alles auf später zu verschieben. Die Sachen die passiert sind kann ich nicht ändern, aber die Dinge, die vor mir liegen werde ich versuchen, anders anzugehen.
Liebe liebe Grüße an Euch alle!
Danke, dass ich da seid.