Am Morgen des Valentinstag der Anruf aus der Klinik. Es ist deutlich schlechter. Sie bekommt jetzt eine kleine Dosis Morphium.
Keine richtige Ansprechbarkeit mehr.
Ab diesem Zeitpunkt scheint mir rückblickend alles irgendwie genau getaktet gewesen zu sein.
Als ich eintraf in der Klinik, saß eine Psychologin mit meinem Vater am Bett. Meine Mutter war bereits seit Stunden nicht mehr ansprechbar gewesen.
Sie muss mich gehört haben, denn plötzlich wurde sie unruhig. Ich rief Hallo Mama!
Als ich vor ihrem Bett stand, hob sie den Kopf, öffnete kurz die Augen, lächelte mich an und winkte ganz dezent mit ihren Fingern – so wie sie es immer tat, in der ihr ganz eigenen Art.
Dann schlief sie wieder ein.
So verbrachte ich mit meinem Vater den ganzen Tag bei ihr.
Zwischendurch brauchte mein Vater dann mal etwas frische Luft und etwas zu essen.
Meine Mutter hörte gerne Klassik. Nichts schweres, keine Violinen die dauerhaften Apokalyptische Reiter begleiten. Walzer, Polka, beschwingtes Klavier das war das richtige.
So saßen wir, hörten Musik und ich las aus ihrem Buch vom Dalai Lama vor, das mochte sie gerne. Ich las über Glück und Glücklich sein. Was bedarf es und gibt es eine universale Formel? Wie wichtig sind materielle Dinge, wie wichtig sind Freundschaft und Familie und in welchem Teufelskreis befinden wir uns alltäglich.
Das Schüren unserer eigenen Unzufriedenheit mit dem ständigen Anspruch auf mehr Dinge.
Ja, wir waren philosophisch unterwegs. Ich weiß, dass sie das mochte.
Draußen schien die Sonne, auch das erzählte ich zwischendurch. Ich sprach von alten Filmen mit Heinz Erhardt und Peter Alexander.
Wieder wurde sie für eine Sekunde wach und blickte mich ganz kurz an; schlief dann wieder ein.
Man lernt in dieser Zeit plötzlich viele Menschen kennen. Auf der Palliativstation arbeiten wirklich tolle Menschen. Mit einer Schwester kam ich besonders gut ins Gespräch, als sie sah wie ich aus dem Dalai Lama vorlas. Sie sei selbst ein Streuner zwischen den Religionen und außerordentlich interessiert an Dingen zwischen unseren Welten. Dinge die wir nicht sehen können und doch spüren wir in besonderen Situationen deren Existenz.
Mir kommt es so vor, als ob wir in unserer Verwundbarkeit und Schmerz zu unserem Ursprung zurückkehren. Zu einem Glauben an etwas was uns umgibt. Was oder wer es auch sein mag.
Schutzengel, Götter, Wesen oder Kräfte. Es gibt etwas Unerklärliches zwischen Himmel und Erde und nur wenige haben die Gabe es zu spüren; außer wir sind verwundbar und empfänglich in unseren dunkelsten Stunden.
Langsam dämmerte der Abend. Irgendwas in mir wurde wahnsinnig unruhig. Wir hatten uns vorgenommen nicht über Nacht zu bleiben. Mama würde es, wie gestern schon, nicht wollen. Daran wollten wir uns halten, so schwer es auch fallen würde.
Ich bat meinen Vater um eine letzte halbe Stunde alleine. Alles musste noch mal raus.
Ich drückte noch mal meine tiefe Dankbarkeit aus, für alles was sie getan hat, für die wunderbare Zeit, die Werkzeuge die sie mir gab um das Leben zu bestehen.
Dankbarkeit für den selbstverständlichen Anker in meinem Herzen, ein großer Fels mitten in der Brandung auf dem ich immer Ruhe fand und immer Ruhe finden werde. Dort, auf diesem Felsen konnte ich allem trotzen, Probleme bewältigen und Lösungen finden.
Sie wird immer in meinem Herzen sein und ich werde die Lehren aus ihrem Leben weiterführen. Aufpassen auf meinen Vater und ihren Lieblingsonkel. Mein Leben so leben, dass sie stolz auf mich sein kann.
Während ich sprach und mit den Tränen rang, wurde sie erneut total unruhig.
Dann passierte etwas wahnsinnig Schönes. Es liefen zwei Tränen bei ihr.
Sie hatte alles gehört und verstanden. Es kam alles zusammen. Freude und unglaubliche Trauer.
Erneut küsste ich und drückte sie. Ich wollte nicht gehen, ich hätte in diesem Moment meine Seele verkauft, wenn das Angebot gestanden hätte.
Mein Vater verabschiedete sich ebenfalls innig. Wir fuhren schweren Herzens. Mir tat alles weh, ich fühlte seelischen Schmerz, der ins körperliche überging.
Als ich eine Stunde zu Hause war klingelte das Telefon. Es war passiert. Sie war eingeschlafen.
Es passierte kurz nach dem wir weg waren. Sie hat nur gewartet und unsere Momente genossen.
Jetzt gab es nichts mehr zu tun für sie.
Was soll ich noch hier liegen, wenn ich nicht mehr aufstehen oder sprechen kann.
Dann gehe ich jetzt.
…..
Schockphase. Es ist eine Schockphase in der ich mich befinde, denn begreifen kann ich das alles nicht. Mein Vater auch nicht. Er hält sich wacker mit Aufgaben die es jetzt zu erledigen gilt. Darin unterstütze ich ihn auch.
Nächste Woche wird wohl die Beerdigung sein. Keine Ahnung wie ich das durchhalten soll. Meine Welt ist dunkler geworden. Es tut sich ein unglaublicher Schmerz auf. Der große Felsen in mir ist umgeben von stillem Wasser, die See ruht und hält inne.
Ich spüre ihre Nähe nach wie vor, spüre ihre Hand auf meiner Schulter und ihren warmen Händedruck. Ich spüre die Küsse aus der Kindheit und die Geborgenheit in ihrer Nähe.
Ich spüre unendliche Liebe.
Andererseits habe ich unglaubliche Angst und mir tut das alles so unglaublich leid. Mich plagen Vorwürfe ob ich etwas hätte mehr oder besser tun können. War ich nicht oft genug da oder habe ich einfach zu spät realisiert wie es wirklich endet?
Jetzt sitze ich hier in Tränen, während dieser Text entstand.
Bitte entschuldigt die Länge, mögliche Rechtschreibfehler - aber so wie meine Tränen, floss der Text einfach aus mir raus.
Traurige Grüße