Verzögerte Trauer?

  • Liebes Forum,


    ich möchte mich kurz vorstellen. Ich bin David, 24 Jahre alt. Als ich 15 Jahre alt war habe ich meinen Vater nach dessen langem Kampf gegen den Krebs verloren und: Nie habe ich getrauert. Sagt meine Mutter. Und ich glaube sie hat Recht. Fühlte nie was bei dem Anblick seines Grabes, habe kaum Erinnerungen an die Sterbezeit meines Vaters, wenige Fetzen der Erinnerung an die Beerdigung als ich die Urne trug.


    Ich habe meinen Schmerz betäubt mit vielen Dingen: Leistung in der Schule und im Studium, Zigaretten, Frauen, viele Ortswechsel. Ich bin mir nicht bei allem sicher, ob es nur das als Funktion hatte, aber ich glaube zum großen Teil schon. Frauen haben mir immer gesagt "Lass Dich endlich lieben, David." Und ich habe nie verstanden, was sie meinen und sie dann meist recht bald verlassen. Nun ist in einer Beziehung, in der ich mich gerade befinde all das aufgebrochen, mit dem Unterschied, dass diese Frau mir wichtiger ist als alle zuvor. In dem Moment, indem ich beschloss mich meiner Elsa, mit der ich nun über ein Jahr zusammen bin - und eine schwierige Fernbeziehung führe - wirklich öffnen zu wollen, ging alles wie im Dominoeffekt.


    Jetzt sitze ich in Portugal zum Auslandssemester. Und vermisse meinen Vater und weine und weine und weine. Habe mir Hilfe gesucht bei einer deutschsprachigen Psychologin. Trotzdem fühle ich mich beschämt, dass ich so plötzlich nach 9 Jahren einbreche (zum 2. Mal in meinem Leben). Es gab einen Einbruch vor 5 Jahren, den ich aber damals noch nicht identifizieren konnte als solchen. Damals bin ich wieder nach Hause zurück zu Mama gekrochen und hab einfach nichts gemacht und gewartet. Dass es heute wieder so weit ist, zeigt mir, dass ich etwas ändern muss in meinem Leben. Ich will leben, ich will leben, ich will leben. Irgendwann ein starker und liebender Vater und Ehemann sein.


    Ich frage mich, ob ich depressiv bin - so wie mein Vater es war -, viele Symptome kommen mir bekannt vor oder ob es aufgestaute Trauer ist - oder beides. Ich hab Angst, dass das nie wieder vorbei geht, dass ich "hängen bleibe" in diesem Zustand und nie richtig lebensfähig sein werde. Mein Vater fehlt mir so, er hat mich mit 15 einfach verlassen und ich konnte mich nie wirklich von ihm verabschieden. Als es ihm plötzlich rapide schlechter ging, war ich in Kanada zum Schüleraustausch, kam dann früher zurück, aber die Metasthasen hatten schon sein Hirn erreicht.


    Es ist so plötzlich alles so leer und in meiner Seele fehlt einfach ein riesengroßes Stück: der Vater, der seinen Sohn durch die Pubertät hätte leiten können, auf's Leben vorbereiten können. Und jetzt sitze ich hier mit 24 und weiss nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Und gleichzeitig frage ich mich, ob ich wirklich "nur" trauere oder ob etwas anderes mit mir nicht stimmt, 9 (!!) Jahre nach dem Tod des Vaters, meines Vaters Klaus.


    Für Gedanken jeder Art dankend,


    David.

  • Hallo lieber David!


    Herzlich Willkommen hier in unserem Forum! :30:


    Möchte gleich vorausschicken, beschämt darüber zu sein, dass du nach 9 Jahren "einbrichst" - das brauchst du ü b e r h a u p t nicht!


    Ich verstehe dich, dass dich diese neue Situation verunsichert und du momentan eigentlich nicht weißt, was los ist mit dir. Vermutlich hat deine Mutter Recht, dass du nie richtig getrauert hast, dass du nicht durch all die Phasen durchgegangen bist, dass du einfach weitergemacht hast, du hattest die Kraft der Jugend und bist der Trauer wahrscheinlich immer aus dem Weg gegangen, vielleicht auch gar nicht bewusst. Und nun, wo du die Liebe wirklich zulassen kannst bei deiner Elsa, kommen vielleicht auch andere Gefühle viel mehr an die Oberfläche, sie Sehnsucht, das Vermissen, die Trauer, dass du dich nicht mehr richtig verabschieden hast können, dein Gefühl, um den so nötigen Beistand deines Papas beim Erwachsen werden gebracht worden zu sein. ;( Du bist inzwischen ein junger Mann geworden, auch mit dem Gedanken mit Familiengründung (früher od. später), du willst auch ein guter Vater sein und vielleicht kommt dadurch wieder alles an die Oberfläche. Aber es muss dich nicht erschrecken, du trauerst eben "später" - jetzt. Auch wenn du nun verzweifelte Tage hast und wir dir nicht wirklich helfen können, so muss dir bewusst sein, dass wir hier drinnen alle Facetten der Trauer kennen, sie auch durchlebt haben und dich ein Stück deines Weges begleiten wollen. Ich möchte damit sagen, fühl dich verstanden. :24:
    Ob es "nur" verspätete Trauer ist od. auch Depression vermag ich natürlich nicht zu sagen. Ich finde es super, dass du dir Hilfe bei einer Psychologin gesucht hast, das finde ich sehr wichtig. Du wirst nicht "hängen bleiben" - du wirst richtig lebensfähig sein!! Vertrau darauf! Aber dir muss es auch bewusst sein, dass Trauer auch "Arbeit" ist und nicht so schnell vorbeigeht.
    Schreib immer, wann dir danach ist David! Wenn es auch momentan nichts an deiner Situation ändert, aber das Schreiben kann ungemein erleichtern. Und du hast eine sehr gute Art dich auszudrücken!


    Ich reich dir ein virtuelles Taschentuch!


    Mit lieben Grüßen


    Linda


    Nachtrag: David, magst ein bisschen aus deiner Kindheit erzählen - von dir und deinem Vater?

  • Liebe Linda,


    vielen Dank.


    Ich habe schöne Kindheitserinnerungen mit meinem Vater. Gut war es bis ich 9 war. Dann hatte er einen Fahrradunfall und schwere Kopfverletzungen, war danach nie mehr der alte, es kamen Aufenthalte der Eltern in einer psychosomatischen Klinink, Fremdgeherei meines manisch-depressiven Vaters, eine starke Übermutter.


    Aber er hat mich immer sehr geliebt. Und hat mir trotzdem nur defizitär geben können. Schöne Erinnerungen sind gemeinsame Fahrradtouren, eine Schneeballschlacht, Fussball. Dabei steigen mir die Tränen in die Augen. ;( Dann fühle ich mich betrogen um mein Seelenglück, dass mein Vater einfach so weg war, mehr oder weniger plötzlich. Finde es so ungerecht, finde es zum Kotzen, verfluche "Gott", falls es ihn denn gibt.


    David.

  • Lieber David!


    Da sind ja sehr schöne Begebenheiten dabei. Das waren sicher unbeschwerte Momente, wo ihr Rad fahren ward, Fußball gespielt habt und euch mit Schneebällen beworfen habz. Später dann leider auch viele schwierige Momente. Aber wie du schreibst, er hat d i c h g e l i e b t und das ist schon ganz schön eine Menge!! :) Leider konnte er dir vielleicht nicht das geben (durch den Unfall und seine Erkrankung), was du in dem Alter gebraucht hättest. Du fühlst dich darum betrogen. Ja, das ein ein Schei ... Gefühl. Auch jetzt bräuchtest du ihn noch, möchtest ihn gerne um Rat fragen in manchen Dingen, möchtest mit ihm was unternehmen, ihn an deiner Seite wissen - es gibt im Leben eben oft das Gefühl, ich bräuchte meinen Vater - man bleibt sein Leben lang ein wenig das "Kind" - auch ich (obwohl ich viel, viel älter bin als du :D ). Auch ich vermisse meinen Vater noch nach 11 Jahren.


    Wie ist das Verhältnis zu deiner Mutter? Kannst du mit ihr darüber sprechen? Hast du Geschwister?


    Wenn ich zu viel frage, musst nicht immer Antworten! :)


    Linda

  • Lieber David,
    wenn nach so langer Zeit etwas aufbricht, was man vorher gut versteckt hat, dann ist das natürlich verwirrend und beängstigend, aber ich denke, es ist jetzt mal wichtig, dass es aufbricht. Linda hat schon recht: Du lässt Gefühle zu für deine Elsa und dadurch kommen auch andere Gefühle hoch, es ist wie ein Dammbruch .... Ob es nun Trauer oder Depression ist, kann ich so auf diese Entfernung und durch deine Schilderung natürlich nicht sagen.Ein paar Fragen habe ich aber:


    Kannst du schlafen?
    Fühlst du etwas oder bist du gefühlstaub?
    Kannst du trotzdem deiner Arbeit nachgehen?
    Hast du bessere Phasen dazwischen? Kommt der Schmerz in Wellen und dazwischen sind auch mal gute Momente?
    Hast du Appetit oder kriegst du nicht runter?
    Wie ist es mit deiner Verdauung?
    Bist du antriebslos, ständig müde? Kommst du morgens aus dem Bett?
    Hast du körperliche Symptome? Schwindel, Atemnot, Schmerzen?


    Alles Liebe
    Christine

  • Liebe Christine, liebe Linda,


    ich danke Euch von Herzen für Eure warmherzigen Nachrichten.


    Ich bin seit ein paar Tagen zu Hause bei Mutter und ja, ich bin in eine schwere Depression gefallen, die Handeln erforderlich macht, welches auch ärztliche Begleitung beinhaltet - ob die Depression nun kam wegen der Trauer um den Vater oder die Trauer ein Symptom der Depression ist, sei erstmal dahingestellt. Letztlich gehört eh alles zusammen - alles auf dieser Welt ist mit allem verbunden, das ist zumindest meine Überzeugung, mein Weltverständnis. Aber an meiner Trauer um den Vater, an meinem tiefen Schmerz, werde ich erst arbeiten können, wenn es mir wieder ein bisschen besser geht...


    Ich drücke Euch dankbar,


    David.

  • Lieber David,

    willkommen unter uns Trauernden. Mein herzlichstes Beileid zum Verlust deines Papa´s.

    Egal wie lange es gedauert hat, bis die Trauer kam, dein Papa hat dich eine ganze Weile lang durch dein Leben begleitet. Er war und er bleibt dein Vater.
    Du hast ihn verloren. Auch dieser Verlust wird dich ein Leben lang begleiten. Dir ist etwas Schreckliches passiert, was nicht mehr gutzumachen ist.
    Vielleicht hilft es, diese Erkenntnis als Solche zu begreifen und zu versuchen, mit diesem Schicksal weiter zu leben.

    Es ist leicht hier so zu sprechen, weil ich in einer ganz anderen Situation bin. Nicht mehr ganz so jung habe ich immer wieder Tiefschläge einstecken müssen und von mal zu mal gelernt, dass immer "wenn eine Türe zufällt, eine andere, manchmal auch zwei aufgeht". Das ist zwischenzeitlich ein Lebensmotto geworden und ich versuche, dies auch meinen Kindern weiterzugeben.

    Bezüglich der Depressionen, oder des Verdachts hast du dir schon Hilfe geholt. Das finde ich sehr, sehr erwachsen! Mit der richtigen Therapie wirst du wieder Licht in dein Herz bekommen und auf Geschehenes zurückblicken können, ohne in ein Loch zu stürzen.

    Mein Sohn war nur wenig älter als du, als er den Vater verlor und auch bei ihm bemerke ich kaum Anzeichen von Trauer. Mir wird ein wenig bang,.... ach könnte ich euch nur ein bisschen von meinem Lebensmut geben und irgendwie helfen...

    Wünsche dir viel Mut und viel Kraft DEIN Leben anzupacken!

    schnee