Wo soll ich beginnen, mein Leben, meine momentane Situation, meine Trauer, meine Verzweiflung, meine Überforderung zu beschreiben?
Vielleicht vor fünf Jahren, als mein Vater an Krebs erkrankt ist und meine Mutter und ich ihn während seiner Krankheit und während seines Sterbens begleitet haben.
Meine Mutter und ich hatten immer schon eine sehr enge, Viele sagen viel zu enge Bindung, aber als wir uns gemeinsam um meinen Vater gesorgt haben und ihn zu Hause bis zu seinem Tod betreut haben – ich bin damals in den letzten Wochen in die Wohnung meiner Eltern gezogen und habe mich von meiner Arbeit freistellen lassen – sind wir noch enger zusammen gewachsen. Auch danach natürlich, als wir gemeinsam getrauert haben und ich versucht habe, meine Mutter in ihrem Schmerz und ihrer Trauer beizustehen – die beiden waren seit ihrer frühesten Jugend, knappe 60 Jahre lang ein Paar gewesen.
Meine Mutter ist dann vor knapp einem Jahr selbst an Krebs erkrankt und seit dieser Zeit habe ich praktisch mein eigenes Leben aufgegeben und war für sie da. Während der Operationen, während der Chemotherapie, als sie im Krankenhaus oder auch zu Hause war. Abgesehen von drei Monaten, die ich in meiner eigenen Wohnung verbracht habe, habe ich das ganze letzte Jahr in ihrer Wohnung auf der Couch geschlafen, um ihr beistehen zu können.
Vor Weihnachten bekam sie den letzten Zyklus Chemotherapie und danach hat sie sich bis Anfang April scheinbar recht gut erholt, bis die Krankheit erneut zugeschlagen hat. Sehr heftig, unvorstellbar schmerzhaft und grausam. Vor zweieinhalb Wochen ist sie gestorben. Zu Hause in ihrem eigenen Bett. Ich habe keine Geschwister, keine nahen Verwandten, keine Kinder und seit knapp zwei Jahren auch keinen Partner. Ich habe mich in den letzten Tagen alleine um sie gekümmert. Ihr Morphium gespritzt, war für sie da, Tag und Nacht. Sie hat ganz schrecklich gelitten in den letzten Wochen ihres Lebens, besonders die letzten Tage waren ein einziger Kampf. Trotzdem hat sie alles sehr, sehr tapfer ertragen. Doch leider gab es keine Spur von friedlichem Einschlafen oder einem verklärten Gesichtsausdruck während des letzten Atemzuges, wie man das so oft hören oder lesen kann.
In den letzten Wochen, als ich neben dem Bett meiner Mutter saß und ihre Hand hielt, habe ich viele Bücher gelesen – das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben und einige Bücher über Seelenwanderung und von Elisabeth Kübler-Ross und den Nahtoderfahrungen, die sie beschrieben hat. Doch nichts war mystisch am Sterben meiner Mutter, nichts verklärt, nichts, was darauf hindeutet, dass sie durch einen Lichttunnel gegangen ist oder irgendetwas Schönes oder Tröstliches zu Gesicht bekommen hätte. Sie hat geschäumt und erbrochen und als ich ihr nach ihrem letzten Atemzug abermals ihr Gesicht abgewischt hatte, habe ich bemerkt, dass ihr Mund ganz fest zusammengepresst war. Sie konnte die letzten zwei Tage nicht mehr sprechen und deshalb weiß ich auch nicht, wie sie ihr Sterben selbst erlebt hat, ob sie Schmerzen hatte oder was sie gefühlt hat. Das empfand ich besonders schlimm, dass sie ganz plötzlich, von einer Minute zur anderen zu schwach zum Sprechen wurde, obwohl sie geistig völlig klar war und ich von nun an nicht mehr mit ihr kommunizieren konnte.
Nun ist sie, wie gesagt, seit zweieinhalb Wochen nicht mehr hier. Ich habe ihren 17jährigen Hund geerbt und muss nun die Wohnung meiner Eltern räumen, in der ich schon meine Kindheit verbracht habe und die die beiden beinahe 50 Jahre lang bewohnt haben.
Ich bin kurz nach dem Tod meiner Mutter mit dem Hund für ein paar Tage in meine Wohnung gezogen, doch der alte Herr fühlt sich dort derart unwohl, dass er mir einige Male in die Wohnung gepinkelt hat und so bin ich mit ihm wieder in die Wohnung meiner Eltern gezogen. Auch aus dem Grund, dass ich in Ruhe alle Kästen und Schubladen durchschauen kann, um zu sehen, was ich behalten möchte und was ich weggeben muss.
Ich merke nun aber, dass mir mehr und mehr die Kraft ausgeht, dass ich in den letzten Tagen nur wie ohnmächtig und gelähmt die vollen Regale und Vitrinen (mein Vater hat Zinnfiguren gesammelt und Dioramen gebaut, sowie wunderschöne Bilder gemalt und war sein ganzes Leben lang künstlerisch sehr produktiv) anstarre und einfach total damit überfordert bin zu entscheiden, was nun mit diesen ganzen Dingen, an denen mein Vater mit vollem Herzen gehangen ist, geschehen soll. Außerdem macht es mich völlig fertig, in dieser Wohnung, die sich seit dem Tod meiner Mutter schlagartig energetisch total verändert hat dahin zu vegetieren.
Ich habe Freunde, sogar ein paar sehr gute. Allerdings haben alle Familie, teilweise auch kleine Kinder und sind mit ihrem eigenen Leben sehr beschäftigt. Viele bieten ihre Hilfe zumindest bei der Wohnungsräumung an, doch wenn es dann tatsächlich dazu kommt, dass ich jemanden brauche, sieht die Sache dann oft anders aus und es ist plötzlich niemand mehr da.
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich mich fühle. Mein Leben ist auf so vielen verschiedenen Ebenen aus den Fugen geraten. Allem voran steht natürlich, dass ich die wichtigste Bezugsperson in meinem Leben verloren habe – meine Mutter war ein Leben lang ständig für mich da, manchmal mehr als mir lieb war – ich kann immer noch nicht fassen, dass sie nun einfach vom Erdboden verschwunden ist.
Was mich auch sehr belastet ist, wie schon erwähnt, die Art und Weise wie sie gestorben ist. Wie furchtbar sie leiden musste und was sie wohl selbst in ihren letzten Stunden empfunden haben muss.
Dann die Räumung der Wohnung und was nun mit dem Lebenswerk meiner Eltern geschehen soll.
Und schließlich die totale Einsamkeit – niemanden zu haben, auf den ich mich wirklich verlassen kann, niemanden zu haben, den ich heulend zu jeder Tages- oder Nachtzeit anrufen kann und der mich in den Arm nimmt, wenn gar nichts mehr geht.
Wenn ich den alten, gebrechlichen Hund nicht hätte (der aber nicht so gebrechlich ist, dass ich es im Moment über´s Herz bringe, ihn einschläfern zu lassen), würde ich einen Koffer packen und mal einige Tage weg fahren – am liebsten so weit wie möglich, aber es würde schon genügen, einfach nur irgendeinen Tapetenwechsel zu haben. Das ist seinetwegen allerdings nicht möglich.
Ich drehe mich im Moment im Kreis und habe keine Vorstellung, wie ich aus diesem Dilemma in der nächsten Zeit auch nur ansatzweise heraus kommen könnte.
Geht es jemandem von euch ähnlich? Was sind oder waren eure Erfahrungen? Glaubt ihr, dass unsere geliebten Menschen, die von uns gegangen sind, weiterhin unter uns weilen? Dass es ihnen gut geht, dass sie in irgendeiner Form weiter bestehen? Oder glaubt ihr, dass sie einfach nur in uns, in unseren Herzen und Erinnerungen weiter leben? Natürlich werde ich meine Mutter und auch meinen Vater immer in meinem Herzen tragen und die Liebe besteht weiter, dennoch ist diese Vorstellung für mich nicht sehr tröstlich. Eine tröstliche Vorstellung ist für mich nur, dass Verstorbene als Individuen, die sich ihrer selbst bewusst sind glücklich und zufrieden in irgendeiner Form weiter bestehen. Als Seelen, Energiewesen, oder vielleicht auch wieder inkarnieren. Ich negieren nichts, stelle nicht in Abrede, dass diese Formen des Weiterlebens existieren, aber überzeugt bin ich davon nicht.
Ich weiß, ich sollte mich gesünder ernähren, mich zu Bewegung aufraffen, ein wenig ausgehen, einfach „normale“ Dinge tun, doch stattdessen habe ich begonnen zu rauchen, esse kaum etwas außer Süßigkeiten und kann mich kaum aufraffen, mal die Treppe statt des Liftes zu benutzen.
Wie kann es wieder bergauf gehen? Was meint ihr?