Vielleicht dies und vielleicht das...

  • Guten Abend ins Forum (ich stelle mir gerade einen sonnenbeschienenen Platz vor, an dem sich Menschen treffen, um zu schnacken, sich auszutauschen...),


    nach meinem ozeanischen Tiefseetauchgang vom gestrigen Abend unter mir völlig unbekannten Menschen grübelte ich heute schon etwas darüber nach, ob ich vielleicht zu offen und damit nicht ganz dicht gewesen bin... Nun isset raus, ich habe mich mit meinem seltsamen Innenleben geoutet, der Boden öffnete sich nicht unter meinen Füßen - und wenigstens bin ich ehrlich gewesen dabei.


    Ich habe in einige Beiträge hineingeschaut, mich berühren lassen, auch gestaunt, wie viel Offenheit und durchaus Kontroverses hier kursiert und spüre, "Alle Achtung!" - und manchmal auch einen stockenden Atem.


    Dies und das. Heute begleitete mich tagsüber eine unglaubliche Müdigkeit und Erschöpfung. Die Arbeit ging mir schwer von der Hand - jede vollzogene Tat eine absolute Errungenschaft. Ich bin sehr dankbar und erleichtert, relativ frei und unbehelligt arbeiten zu können. Mir sitzt kein Chef direkt im Nacken - momentan umkreist man mich sowieso etwas, weil viele Kollegen mit Tod, Sterben und Trauer überhaupt nicht umgehen können, was mir relative Ruhe und vor allem eine gute Rückzugsmöglichkeit beschert.


    Dennoch werde ich oft gefragt, "wie es mir geht" und ehrlich gestanden, ich weiß es nicht. Müde bin ich, dumpf fühlt sich mein Spüren und Denken an - oft und nicht den ganzen Tag. Diese Stimmungslage wechselt relativ beständig mit einem Gefühl von Intensität und Tiefe - so, wie man dem Leben wirklich auf dem Grund schaut und das wiederum empfinde ich als sehr stärkend und tröstend. Bereits seit dem Tod meiner Mutter und dem davor gelagerten "Trauerjahr" 2011, in dem einige Menschen aus unserem Lebenskreis verstorben sind und die Entscheidung zur Hospizausbildung heranreifte, stelle ich bei mir einen grundlegenden Wandel in meiner gesamten Weltanschauung fest. Zum einen macht sich in mir das "Leben mit der Bewusstheit über meine Endlichkeit" breit (nein, nicht immer handele ich danach - eher sogar ausgesprochen selten... - doch das Wichtige ist die jederzeitige Bewusstheit darum). Vieles ist mir einfach furchtbar unwichtig geworden. Bürotratsch, wer-mit-gegen-wen, Gesabbel über Gehaltsgruppen - wer welche hat, vor allem, wer welche in den Augen der Betrachtenden zu Unrecht hat - es ist mir egal geworden. Ich verdiene nicht so sehr viel Geld, doch es reicht, mir ein freundliches Leben zu erlauben. Momentan fallen mir mehr Haare aus als üblich und auch die Haut schuppt und blättert vom Körper runter. Ich häute mich und was am und im Kopf zuviel ist, wird eben abgestoßen.


    Auch zu meinen verstorbenen Eltern fühle ich sehr differenziert. In den Jahren nach dem Tod meiner Mutter lebte ich immer ein festes Besuchsritual am Grab: Ich sprach Gebete und Gedichte, die ich für die Trauerfeier ausgewählt hatte und sang bei wirklich jedem einzelnen Besuch auch die ausgewählten Musikstücke. Am Ende ein Vaterunser im hiesigen Dialekt, so wie ich es durch die Tanten und Großmutter immer aufgeschnappt hatte. Dann einen Knutscher aufs Tonherz (jawohl, auch am Grab habe ich gegen die Traurigkeit an immer noch wieder gespielt, meine Mutter zu lieben...) - doch verblüffenderweise brachte mich das ihr wirklich etwas näher. Nun liegt mein Vater im Grab "über ihr" und irgendwie stelle ich in mir einen Ärger fest. Wenigstens auf dem Friedhof komme ich dieser Frau näher. Es ist ein Besuchsritual gewachsen und damit auch die Idee einer Verbindung. Nun liegt der Vater obenauf und ich bin völlig blockiert. Ich stehe vor dem Grab und bin sprach- und irgendwie hirnlos. Ich fühle etwas, aber kann unmöglich benennen was. Ein Glück, dass es wenigstens Nacktschnecken gibt, an denen ich meinen Zorn leben kann. Die fraßen in Windeseile die Blüten einer Petunie weg - fette, schleimige Sabberschnecken auf filigranen Petunienblütchen und Zwergrosen. Geht gar nicht! Naja, Schnecken umzubringen schaffe ich auch nicht, also angele ich sie vorsichtig alle runter und befördere sie in umliegende Büsche. Macht wirklich Spaß.


    Astrid, Dein Buchtip ist hervorragend! Ich habe mir das Buch gestern noch bestellt und heute abgeholt. Es ist einer der wenigen Trauerbegleiter, die sich auch dem Schatten der Trauer annehmen. Zumindest habe ich bislang immer nur davon gelesen, wenn geliebte Menschen gehen und fühlte mich - auch unter den Menschen um mich herum - oft so seltsam undankbar, komisch irgendwie, auch unwürdig und "schuldig". Ich gewöhne mir mehr und mehr das "Aber" ab und ersetze es durch das "Und". Ich habe meine Eltern geliebt und zeitweilig wirklich gehasst. Sie haben mich oftmals so enttäuscht und verletzt und auch ich habe sie enttäuscht und verletzt. An ihnen lerne ich, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Es gibt leider wieder und wieder wörtlich "unaussprechliches Leid", das wir einander nicht mitteilen und das uns so oft versteinert und die Ohren füreinander betäubt.


    Verzeiht, der Text wird schon wieder lang und länger... Ich bin so voll mit Trauer, gelebter und ungelebter, eigener und fremder und ich bin so voll und inspiriert von Sterbeprozessen, vom Umgang mit Sterbenden, von der Gestaltung von Trauerfeiern, von Texten, Literatur, Gesang und Klang... Vielleicht bin ich morbid oder durchgeknallt - ich weeß et einfach nich - und ich bin bewegt, ich bin interessiert, Euch, Eure Hintergründe, Eure Geschichten hier kennenzulernen - mit der Zeit...


    Darum jetzt einfach nur eine gute Nacht - ich lege mich nun mit der neuen Lektüre zur Ruhe.


    Hayat

  • Das Aber durch ein Und ersetzen, das übe ich seit einigen Jahren. Und es macht einen Unterschied. Schön, dass du das auch machst.


    Wenn man dich fragt, wie es dir geht, dann antworte doch ehrlich mit - ich weiß grad selber nicht so genau, ich bin müde.


    zur schuppigen Haut - das höre ich oft, dass Menschen in der Krise Haare verlieren, Haut sich schuppt. Trotzdem schau auf dich und verwöhne deine Haut mit einer feinen Creme, damit sie sich erholen kann. Vielleicht auch sinnbildlich für das Pflegen des Inneren, damit sich die Seele erholen kann.


    Jetzt hast du mir einen Grund genannt, warum es Nacktschnecken auf dieser Erde gibt - um die Wut spüren zu können ;)


    Ich hoffe die Lektüre hat dich nicht enttäuscht und du hattest eine gute Nacht.

    Lg. Astrid.