Liebe Blaumeise,
Wir schämen uns für Unangemessenes und Verbotenes, den ungewollten Blick anderer Personen, Schwäche, Defekte und Krankheit, Nacktheit, Schmutzigkeit und Kontrollverlust. All das wollen wir vermeiden, um nicht an Status zu verlieren. Denn Statusverlust löst wiederum Scham aus. Und dann gibt es noch die Scham für die Scham .....
Scham ist, wie schon geschrieben wurde, an sich ein gutes Gefühl, das jeder psychisch gesunde Mensch kennt. Wenn das Schamgefühl bei einem Menschen fehlt (entweder weil es durch den Einfluss von Alkohol oder Drogen außer Kraft gesetzt wird oder weil eine Funktionsstörung etwa durch Demenz oder einen Tumor im präfrontalen Cortes vorliegt), dann werden Menschen verhaltensauffällig: Sie können sich nicht mehr an Normen und Konventionen halten, ihr Verhalten ist nicht mehr vorhersehbar, sie mache uns Angst. Sie gelten als psychisch krank.
Du reagierst mit deiner Scham also völlig normal, denn du bist gerade angeschlagen, schwach, als Depressionspatientin krank. Scham empfinden wir aber- wenn alles gut für uns läuft - vor allem vor dem Auge der Öffentlichkeit, dem Arbeitgeber, vor Menschen, die keine vertrauten Personen sind.
Engen vertrauten Personen gegenüber empfinden wir keine Scham oder nur wenig: wir dürfen/können uns zeigen, wie wir sind, mit all unseren Defekten und Schwächen, unseren Unangemessenheiten und Unzulänglichkeiten. Dafür haben wir - wenn alles gut läuft - unsere Familien. Im Schutz der Familie dürfen wir sein, wie wir eben sind - und wir werden trotzdem geliebt: trotz ausgebeulter Jogginghose, unperfekter Figur, pickelig, traurig, krank und sogar samt unsren Blähungen
Ich glaube, das ist gerade das, was dir fehlt: eine Familie, in der du dich als Mensch fallen lassen kannst und nicht schämen musst für das, was gerade nicht gut läuft, für deine Ängste. Ein geschützter Raum, der dir vermittelt, dass du trotzdem wertvoll und liebenswert bist. Das ist sehr traurig. Darum: Lass uns einfach ein bisschen diese Familie sein!
Zu dem ganzen Theater mit der Oma: Das ist furchtbar! Ich muss mich da an Astrid und meine Vorschreiberinnen anschließen. Lass deine Tochter fahren. Aber rede mit ihr: Darüber, warum du so bist wie du bist. Über deine Angst, sie zu verlieren und dass du sie liebst, auch wenn du es manchmal nicht zeigen kannst. Versuch ihr gegenüber aus dem Bannkreis deiner Scham zu treten. Es würde dir so viel Erleichterung bringen und sie könnte verstehen.
Und ja, ich denke der Oma müsstest du eine Ansage machen .... Ich würde es mir aufschreiben, die Wutrede üben, dass dir nicht die Worte fehlen und sie am Telefon ordentlich downtalken.... Stell dich breitbeinig mit einer Hand in der Hüfte (und einem gedanklichen Revolver in der anderen Hand) hin und lass es donnern und blitzen
AL
Christine