Hallo, liebe Petra,
vielen Dank für deine Zeilen! Ganz aus tiefstem Herzen möchte ich dir gleich zu Beginn sagen, dass ich mit dir fühle! Ich habe deine Worte schon in der Früh auf dem Handy gelesen und seitdem habe ich immer wieder an dich gedacht und wollte dir gerne früher zurück schreiben - aber ich sitze erst jetzt wieder mit meinem Laptop da und per Handy zu schreiben wäre zu mühsam gewesen...
Die Leidenswege unserer Mamas sind zwar klarerweise verschieden, ähneln sich in gewissen Punkten aber doch sehr. Es tut mir sehr Leid, was deine Mama und du alles durchmachen musstet und ich kann sehr gut nachempfinden, wie du dich fühlst - bei mir ist doch alles sehr ähnlich! Dass du aber auch erleben musstest, dass dein Papa sich selbst das Leben genommen hat, das ist besonders schlimm!
Ich fürchte, dass Schuldgefühle eine sehr häufige und typische Reaktion sind, wenn eine geliebte Person uns verlassen hat. In deinem Fall ist es natürlich besonders schwierig, da du zumindest nach außen hin die Entscheidung über Leben und Tod deiner Mama treffen musstest. Aber bei näherem Hinsehen ist sehr offensichtlich, dass du nicht die Entscheidung über Leben und Tod getroffen hast - das hat bereits das Schicksal oder der liebe Gott oder woran auch immer man glaubt getroffen.
Ich bin sicher, wir beide sind sehr "gute" Töchter. Wir haben für unsere Mütter alles getan, was in unserer Macht stand und so weit unsere Kraft ausgereicht hat. Und wahrscheinlich sogar noch ein bisschen mehr. Ich glaube, das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich so umsieht und merken muss, wie viele Kranke von der gesamten Famile in irgendwelche Einrichtungen abgeschoben werden, ohne dass sich dann noch irgendjemand aus der Familie um sie kümmert.
Du hast für deine Mama gekämpft wie eine Löwin, du warst sie täglich besuchen, du hast dein gesamtes Leben monatelang für sie komplett zurück gestellt. Das ist gut so, das hab ich ebenso getan und meiner Lebenseinstellung nach ist das auch das Selbverständlichste auf der Welt. Aber bitte mach dir keine Vorwürfe!!!
Du schreibst, du hättest deine Mama zu dir nehmen sollen, erwähnst aber auch gleich, dass die wohnlichen Verhältnisse es nicht zugelassen haben. Weißt du, wenn du deine Mutter zu euch in die Wohnung genommen hättest, dann wäre auf so kleinem Raum und durch dein eigenes Familienleben wahrscheinlich sehr viel Spannung entstanden und das hätte deine Mama bestimmt gespürt. Du wärest vermutlich mit der Situation überfordert gewesen und wärest dann vielleicht manchmal auch ungehalten und ungeduldig mit ihr umgegangen. Dann würdest du dir jetzt noch schlimmere Vorwürfe machen! Außerdem hattest du ja überhaupt keine Ahnung über ihre verbleibende Lebenserwartung. Da hatte ich es insofern ein bisschen leichter, weil ich sowohl bei meinem Vater, als auch bei meiner Mutter wusste, dass die Zeit, die beiden noch bleibt doch absehbar ist. Natürlich weiß man nie genau, wieviele Wochen oder Monate man noch auf dieser Welt sein darf, aber ich wusste zumindest, dass es nicht mehr sehr viele Monate und schon gar nicht Jahre sind. Da ist es auch leichter, für jemanden zu Hause zu sorgen. Wenn das Ende total offen ist - wie soll denn das funktionieren? Du hättest deine Mama doch nicht jahrelang bei dir pflegen können. Im Nachhinein ist man immer gescheiter... Aber, liebe Petra, du hast dir größte Mühe gegeben, ein schönes Heim auszusuchen und das war auch gut so für deine Mama. Und du hast sie monatelang JEDEN TAG stundenlag besucht - das ist doch großartig!
Dass du die Entscheidung treffen musstest, ob die medizinische Versorgung weitergeführt oder eingestellt werden soll, ist ganz schrecklich! Das ist bestimmt die schlimmste Entscheidung, die man in seinem Leben treffen muss und das zerreißt einem das Herz! Aber so wie du die Lage schilderst, hätte deine Mama noch länger noch schrecklicher leiden müssen, wenn du eine andere Entscheidung getroffen hättest. Sie hätte sich nicht mehr erholt und hätte nichts davon gehabt, vielleicht noch ein paar Tage oder Wochen länger liegen zu müssen, ohne sich bewegen zu können, ohne noch ein bisschen lebenswerte Zeit in Würde verbringen zu können. Du liebst deine Mama und du hast aus dieser Liebe heraus die richtige Entscheidung getroffen. Eine andere Entscheidung wäre nur egoistisch motiviert gewesen, nämlich, sich aus der Verantwortung zu winden und vielleicht auch den geliebten Menschen nicht gehen lassen zu müssen. Du aber hast die Entscheidung ganz im Sinne deiner Mama getroffen und ich denke, es war die einzig richtige Entscheidung!
Dass ihr Sterbeprozess so mühevoll und langwierig war, tut mir sehr leid. Ich habe das sowohl bei meiner Mutter als auch bei meinem Vater leider ebenso erlebt und das hat mich total erschüttert. Von manchen Seiten habe ich schon gehört, dass geliebte Nahestehende sanft und friedlich eingeschlafen seien. Ich habe darüber unlängst mit einer Bekannten gesprochen. Sie ist Krankenschwester und hat schon viele Menschen sterben sehen. Sie meinte, sie hätte nur bei einem Einzigen ein friedliches Einschlafen miterlebt, bei allen anderen wäre es lange, mühevoll und teilweise auch qualvoll und schmerzhaft gewesen. Hmmm, ein richtiger Trost ist das wohl auch nicht ... Aber es zeigt zumindestens, dass Sterben, genauso wie eine Geburt einfach ein mühevoller und schmerzhafter Prozess ist... Leider ...
Ich war heute bei einer Notarin - eine außergewöhnlich nette und legere Frau. Ich hab eineinhalb Stunden mit ihr geplaudert. Über meine Mutter, über den geerbten Hund (sie hat für mich homöopathische Medikamente gegoogelt), über Spiritualität usw. Und ich hab auch zu ihr gesagt, dass ich mir manchmal Vorwürfe mache, dass ich quasi Schuld daran habe, dass meine Mutter mit dem Hund so angebunden war, weil ich ihn ja aus Griechenland mitgebracht habe und sie ihn mir zuliebe aufgenommen hat. Und der Hund war in der letzten Zeit, seit er eben schon so alt und gebrechlich ist, eine große Belastung. Sie konnte ihn nicht lang alleine lassen und war sehr eingeschränkt. Und ich mach mir manchmal Vorwürfe, dass das vielleicht MIT ein Grund gewesen sein könnte, dass sie krank geworden ist.
Und diese Notarin sagte zu mir: " Aber Ihre Mutter hat diesen Hund doch auch sehr geliebt und er war ihr bestimmt auch eine Stütze, als Ihr Vater gestorben ist. Und sie hat die Spaziergäng mit ihm bestimmt auch sehr genossen. Und außerdem waren Sie nur der Handlanger, Sie haben den Hund zwar mitgebracht, aber das war vom Universum schon so vorgesehen, dass dieser Hund zu Ihrer Mutter kommt. Die beiden haben sich gefunden, wie es sein sollte." Ich war so überrascht, dass eine (nüchterne) Notarin so etwas zu mir sagt und war tief gerührt.
Und genauso ist es dann aber auch bei deiner Mama: Du hast die Entscheidung nur pro forma getroffen - das Universum oder ihr eigener Lebensplan hat diese Entscheidung schon viel früher so bestimmt.
Zu den Nachbarn und Arbeitskollegen: Wir sind im Moment halt so verletzlich und empfindlich, dass wir unsere Mitmenschen vielleicht ein bisschen hart und ungerecht beurteilen. Viele, die Ähnliches noch nicht erlebt haben, können sich tatsächlich nicht vorstellen, wie wir uns im Moment fühlen. Und Andere haben vielleicht Berührungsängste, haben Angst, nicht die richtigen Worte zu finden (was soll man in so einer Situation schon viel sagen?!) und deshalb lassen sie es gleich ganz und sagen gar nichts. Ich habe ja geschrieben, dass ich von Vielen enttäuscht bin, aber wenn ich genau überlege, hat es auch einige sehr warmherzige Reaktionen gegeben: Zwei Kolleginnen, die mich an meinem ersten Arbeitstag danach einfach ohne Worte in den Arm genommen haben und mich ganz fest gedrückt haben. Das hat für mich von mehr Herzenswärme und Verständnis gezeugt als viele Worte. Oder eine meiner Klassen (ich bin Lehrerin), die mir ihr Beileid ausgesprochen haben und mir angeboten haben, mir bei der Räumung der Wohnung als gesamte Klasse zu helfen. Oder eine Freundin, die nicht in Wien wohnt und drei kleine Kinder hat und deshalb nicht nach Wien kommen kann hat mir ein Paket mit Kräutertee, Schokolade, Kerzen und einer ganz lieben Karte geschickt, auf der stand, dass ich nicht alleine bin... Manchmal sind es die kleinen Dinge, die kleinen Gesten, die sehr wohl da sind, die wir aber in unserem Schmerz und dem manchmal aufkeimenden Frust, dem Zorn und der Verbitterung nicht sehen.
Es tut mir auch sehr leid, dass du dich von deinem Mann ungetröstet fühlst. Es ist wahrscheinlich wirklich schwierig für den Partner in einer solchen Situation die richtigen Worte (und auch Taten) zu finden. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er nicht mit dir fühlt, sondern vielleicht ist er nur hilflos und ratlos, wie er es dir zeigen soll.
Liebe Petra, ich umarme dich und freue mich, bald wieder von dir zu hören!
Alles Liebe
Micky