Nach langer Zeit muss ich mir mal wieder etwas von der Seele schreiben - es ist sehr lang und einiges wiederholt sich sicher. Ich hatte gestern einen sehr schweren Tag. Corona verändert hier auch alles. Mein Vater hat mich gestern wieder beschimpft und fertig gemacht. Mehr will ich jetzt gerade dazu nicht schreiben, aber ich habe mich mal hingesetzt und angefangen aufzuschreiben, was mich bewegt. Vielleicht liest es ja jemand. Ich bin noch nicht fertig mit Aufschreiben, aber ich kann gerade nicht mehr. Alles bricht über mir zusammen. Mehr also später...
Ich befinde mich seit sechs Jahren in einer Zeit der Krise. Die Zeit, die eigentlich wohl für die meisten Menschen die schönste ihres Lebens ist, die Zeit in der man jung ist und die Kinder klein, in der man gemeinsam Familie ist. Ich sage nicht, dass diese Zeit nur schrecklich für mich ist, aber sie ist nicht das, was ich erwartet habe. Tatsächlich habe ich mich mein ganzes Leben lang schon auf diese Zeit gefreut. Ich kann mich erinnern, wie ich selbst in der Grundschule in langweiligen Stunden aus dem Fenster schaute und davon träumte, wie mein Leben wohl als Erwachsene sein würde. Ich träumte von meinen Kindern, meinem Beruf und wie das alles sein würde. Schon mit zwölf sammelte ich Namen für meine potentiellen Kinder und mit neun schrieb ich in mein Tagebuch, wie ich meine Kinder erziehen wollte. Was nirgendwo steht ist, dass im Hintergrund all dessen immer auch meine Mutter stand, die mir schon als Kind erzählt hat von dem, was wir mal machen, wenn sie Oma ist und ich Mutter bin. „Wenn du mal Mama bist…“ oder „Wenn ich dann mal Oma bin…“, „Wenn du irgendwann Kinder hast…“ sind Sätze die oft fielen.
Ich hätte nicht glücklicher sein können, als Chris, mein Mann, endlich zu mir zog, als unser erstes Kind geboren wurde. Aber dann bekam mein Mann Depressionen. Die Freude an unserem Kind wurde getrübt durch die Sorge um ihn, durch die Trauer darüber, dass er sich nicht freuen konnte, durch die Einsamkeit, alles allein zu machen und zu erleben, denn er war ganz woanders. Irgendwann suchte er sich Hilfe, es wurde besser. Die Freude kehrte zurück. Etwa ein Jahr später entschieden wir uns gemeinsam für ein zweites Kind. Als unser Mädchen zur Welt kam, war alles wunderbar. Meine Mutter freute sich so sehr mit uns und mir. Ich hatte einen Mann an meiner Seite, der ein toller Vater und nun ganz bei uns war. Wir zogen in ein Haus in einer kleineren Stadt, die Kinder verbrachten viel wunderschöne Zeit auch mit den Großeltern, wenn wir Hilfe und Unterstützung brauchten, dann waren sie immer da.
Und dann kam der 18. Juli 2014 und alles wurde anders. Meiner Mutter wurde die Diagnose ALS gestellt und von einem auf den anderen Tag war meine Mutter verschwunden. Die zuversichtliche, fröhliche, sanfte, liebevolle Frau, die immer ein Wort des Mutes und der Unterstützung, des Trostes hatte, gab es von jetzt auf gleich nicht mehr. Alle ihre Träume waren zerstört und damit auch meine. Das ist schwer zu erklären. Aber von nun an wurde jede Unterhaltung mit meiner Mutter davon begleitet, was sie nicht mehr konnte, nicht mehr können wird und worüber sie traurig ist. Worüber ich traurig war, was ich verloren hatte, darüber wurde nicht gesprochen. Es ging nur um sie. Sie hatte kein Wort des Trostes für mich. Als ich einmal sagte, ich wisse nicht, wie ich ohne sie leben solle, da war die Antwort: „Du hast doch deine Tochter!“. Als ob ein Mensch einen anderen ersetzen könnte! Es wurde meine Aufgabe sie aufzuheitern, ihr Kraft zu spenden, ihr Mut zuzusprechen. Unsere Rollen wurden getauscht. Ich war fünfunddreißig Jahre alt, meine Kinder waren gerade fünf und gerade zwei. Wie oft hätte ich selbst noch gern mal Hilfe und Unterstützung gehabt, mal ein liebes, aufbauendes Wort. „Ich wünsche dir ein leichtes Leben!“, schrieb meine Mutter mir einmal. Fast hätte ich laut aufgelacht. Ein leichtes Leben also? In dem ich dabei zusehe wie meine Mutter nach und nach verfällt, in dem ich arbeite, mich um kleine Kinder und meine Eltern kümmere und nie jemandem gerecht werde? Sie hätte mich lieber schreiben sollen: „Ich wünsche mir, dass du jemanden findest, der dir hilft, der dich unterstützt, dir Mut zuspricht, wenn dich der Mut verlässt!“ Ein leichtes Leben kann sie mir wünschen, aber das habe ich nicht. Ich konnte mich über die kleinen Dinge nicht mehr gut freuen, so sehr ich es auch versuchte, dann wenn mein Kind schwimmen lernte und ich der Oma davon erzählte, dann kam zurück: „Ja, leider werde ich ja bald nicht mehr schwimmen können.“ Ich konnte mich nicht mehr erholen, denn wenn es freie Tage gab, dann holten wir meine Mutter ab oder besuchten sie bei sich zu Hause. Nicht selten wurde ich bei diesen Besuchen oder auch am Telefon von meinem Vater beschimpft oder musste dabei zusehen, wie er meine Mutter beschimpfte aus Überforderung mit seiner eigenen Situation. Wenn ich da war, bekam ich zu hören, dass ich nicht genug da war, nicht genug half, nicht wirklich etwas bewirkte mit meinen Versuchen zu unterstützen. Gleichzeitig fehlte diese Zeit meiner eigenen Familie. Wir konnten und können uns nur selten bis gar nicht auf uns konzentrierten uns mal erholen, gemeinsam unbeschwert Dinge machen. Über allem hängt immer die Schwere der Krankheit meiner Mutter. Wenn ich etwas genoss, fühlte und fühle ich mich sofort schuldig, denn meine Eltern können ja ihr Leben nicht mehr genießen. Ich sollte es nicht gut haben, wenn es ihnen so schlecht ging. Wenn ich Zeit habe, dann sollte ich ihnen helfen und mich nicht selbst vergnügen. Dieses Gefühl bestimmt mein Leben. Ich konnte und kann keinem von ihnen wirklich helfen, sehr ich es auch versuche und das begleitet mich jede einzelne Minute meines Lebens.
Es kann sich kaum jemand vorstellen, wie beherrschend das ist, wenn jemand, den man liebt so leidet und man sich die ganze Zeit immerzu schuldig fühlt, weil man nichts tun kann und die ganze Zeit immerzu daran denkt und deswegen das eigene Leben nicht mehr genießen kann und sich dann deswegen auch noch schuldig fühlt, weil man doch zumindest dankbar sein sollte, für das, was man hat. Als ich mit unserem dritten Kind in den Wehen lag und es in die Übergangsphase ging, da dachte ich an meine Mutter. Wer schon mal ein Kind bekommen hat, weiß, dass man in dieser Phase eigentlich gar nichts mehr denkt, aber ich dachte an meine Mutter und daran, dass ich Angst habe vor dem Leben ohne sie, daran, dass dieses Kind, das gleich geboren werden würde, seine Oma nicht kennenlernen würde, jedenfalls nicht so, wie sie eigentlich war. Ich dachte daran, dass ich ein Leben in die Welt bringen würde, während ein anderes jeden Tag noch mehr schwindet. Ich hatte Angst und fühlte mich allein. Die Hebamme fragte, was los sei, warum ich nicht mitpressen würde. Ob ich Angst hätte. „Ja!“, konnte ich nur sagen, aber vor was ich Angst hatte habe ich nicht erklärt (das geht auch schlecht unter Wehen) und sie hat es sicher falsch gedeutet. Die Geburt machte mir keine Angst. Mein Leben machte mir Angst. Meine Einsamkeit. Meine Fähigkeit alles gleichzeitig sein zu müssen Mutter, gute und helfende Tochter, eine engagierte und gute Lehrerin, eine gute Ehefrau.
Als die Kleine sich das erste Mal drehte, da schrieb meine Mutter: „Jetzt kann sich das Kind schon mehr bewegen als ich!“ Immer mehr Dinge konnte bzw. entschied ich, meiner Mutter nicht mehr zu erzählen, denn das machte alles nur noch schlimmer. Und diese Entscheidung tut bis heute weh, denn bis zu ihrer Diagnose war meine Mutter meine beste Freundin. Sie war die Person, der ich alles erzählte, meine engste Vertraute. Wenn gar nichts mehr ging, dann war da immer Mama. Nun war ich allein. Mein Mann kann diese Trauer nicht verstehen und sich darin nicht einfühlen. Es gibt keinen Menschen, zu dem er ein vergleichbares Verhältnis hat. Das ist auch in Ordnung, aber es macht mich noch einsamer.