Hallo,
angesichts der fortgeschrittenen Stunde wird es kein allzulanger Text werden. Vor jetzt drei Wochen ist mein Vater verstorben - er hatte meine Mutter um sechs Jahre überlebt. Die Familiengeschichte kann und will ich hier nicht ausbreiten - es wäre einfach zuviel. Meine Mutter war Alkoholikerin, die Jahrzehnte nach ihrem Entzug trocken, jedoch ohne jegliche therapeutische Begleitung und nachhaltig durch ihre Kriegserlebnisse traumatisiert war. In der Familie gab es eine Adoptivschwester, aufgenommen nach ebenfalls traumatischen Ereignissen und mein nunmehr verstorbener Vater ist in spezifischer Weise übergriffig gewesen an uns beiden. Ich war nicht die geliebte Tochter, bis zuletzt nicht, aber diejenige, die in den letzten Jahren den elterlichen Haushalt führte und zwei Jahre lang mit Unterstützung eines Pflegedienstes täglich bei meinem Vater war. Meine Schwester verließ die Familie vor Jahrzehnten - der Kontakt ist abgebrochen.
Beim Tod meiner Mutter bin ich bis heute klar. Mit ihr habe ich den Frieden hinbekommen und seit ihrem Tod spüre ich einfach nur Erleichterung und Entlastung. Was ich ihr von Herzen wünsche ist, dass die ihr entwichene Lebensenergie irgendwowiehin in guter Weise transformiert wurde.
Mein Vater ist nun der letzte meiner Wurzeln, die gegangen sind. Sämtliche Großeltern verstorben und mit seinem Haushalt löse ich ein Stück weit auch meine äußere Herkunft auf. Den Akt haben wir an einen Entrümpler abgegeben - ich holte vorher das zu mir, worüber ich selbst entscheiden möchte, ob und wann es ggf. entsorgt wird. Die Trauer ist unspezifisch. Ich betrauere nicht die Person, die gegangen ist - vielmehr betrauere ich für mich und stellvertretend das, was in meinem Clan nie gelebt oder gefühlt wurde. Die Kriegsfolgen wurden weggefeiert und die Schatten verdunkelten am Ende unsere gesamte Familie. Bekunden mir Menschen ihr Beileid, könnte ich weglaufen, beim Mitgefühl ist es aber auch nicht viel anders. Werde ich ignoriert ist es ebenfalls irgendwie nicht richtig und in der Reaktion auf Ansprache lasse ich ähnliche Plattitüden ab, die mich bei den Mitmenschen ärgern...
Es ist dumpf, es ist taub und es ist auch lebendig in mir. Ich bin üblicherweise ein zerstreuter Professor, sowieso schon, doch momentan übertreffe ich mich selbst noch um Längen. Das Arbeitsleben fällt mir unglaublich schwer - aber noch schwerer ist es, zu Hause zu sitzen und mich auch noch strukturieren zu müssen. Gerade ist alles irgendwie "nicht". Kennt das jemand von Euch? Offensichtlich um irgendetwas im eigenen Leben zu trauern, aber keine wirkliche Trauer zu spüren für die Menschen, die denn tatsächlich gegangen sind - und doch zu merken, dass auch das mit hineinspielt? Und dennoch lebe ich. Ich lache, ich mache Blödsinn - befreit von Elternpflichten gehen wir auf Reisen, ich treffe mich mit Freundinnen etc. Und es liegt irgendetwas schwer über mir, dass ich nicht greifen kann.
So ist das mit diesem seltsamen Verlustgemisch in mir...
Hayat