Meine Mutter ist ein Kind des zweiten Weltkrieges und hat schon in ihrer Kindheit furchtbares miterlebt. Sie selbst wurde als Versuchskaninchen in einer Wiener Klinik drei Jahre lang gequält und hat mit 13 Jahren zusehen müssen wie ihre Mutter umgebracht wurde. Nach dem Krieg hat sie schwer gearbeitet obwohl sie es nicht durfte (TBC) Mit 19 Jahren hat sie meinen Vater kennengelernt und geheiratet. Zwei meiner Brüder starben und meine Mutter fast auch. Mein Vater war brutal und hat sie vergewaltigt und geschlagen. Aus Rücksicht auf meinen Bruder und mich blieb sie. Es gab keinen Tag an dem er sie nicht tyranisiert hat. Als Kind war ich machtlos und später als ich ausgezogen bin habe ich es nicht mehr so mitbekommen. Mit 50 Jahren wurde ihr Herzleiden (Angina pectoris) noch schlimmer, dann bekam sie noch Krebs, Diabetes und das Wasser stieg immer wieder. Die letzten zwei Jahre waren besonders schlimm. Mein Vater trank immer mehr und quälte sie weiter. Noch immer sehe ich die tränenüberstömten Augen meiner Mutter vor mir. Im letzten halben Jahr war sie fortwährend im Spital und die letzen zwei Monate konnte sie nicht mehr gehen. Das sie Schmerzen hat vom Wasser im Bauch hat sie uns verheimlicht. Sie wollte nicht mehr leben und sagte uns auch, dass sie bald sterben wird. Wir glaubten ihr nicht. Meine Mutter war und ist ein Engel und hat so viel leiden müssen. Ich verkrafte das nicht. Ich möchte auch sterben. Ihr Todeskampf dauerte Stunden und wir sahen nur zu. Ich fühle mich erbärmlich meiner Mutter nicht geholfen zu haben.
Liebe Erika,
das ist eine ganze Menge an Schuldgefühlen, die du da mit dir rumträgst. Vielleicht sollte man die mal ein bissl sortieren und sehen, welche man ablegen kann, damit es insgesamt leichter wird:
1. Die Kindheit und Jugend in der NS-Zeit: Dafür kannst du wirklich nichts. Das war sicherlich alles SEHR schlimm. Aber es ist nicht deine Schuld.
Stell dir ein Zimmer vor und pack dieses Schuldpaket von deiner Schulter und leg es in Ecke Nr. 1.
2. Dass deine Mutter deinen Vater geheiratet hat, ist nicht deine Schuld. Und dass sie trotz allem bei ihm geblieben ist, ist auch nicht deine Schuld. Die Formulierung "aus Rücksicht auf meinen Bruder und mich blieb sie", kann ich nicht verstehen. Ich denke, dass auch für deinen Bruder und dich die Situation furchtbar war. Es ist nicht deine/euere Schuld. Pack das Paket in Ecke Nr. 2.
3. Als Kinder hättet ihr eurer Mutter nicht helfen können. Das ist nicht die Aufgabe oder Funktion von Kindern. Kinder müssen beschützt werden. Nicht umgekehrt. Pack auch das in Ecke Nr. 2.
4. Als ihr ausgezogen seid, hätte eure Mutter weggehen können (ich weiß, dass das für viele Frauen schwer ist, v.a. für Frauen aus der Kriegsgeneration, aber zu bleiben, ist offensichtlich auch keine gute Alternative). Sie ist geblieben. Dass sie geblieben ist, ist nicht deine Schuld. Pack das Paket auch in Ecke Nr. 2.
5. Ihr habt ihr nicht geglaubt, dass sie sterben wird. Das kommt häufiger vor, als man denkt. Man will den nahen Tod eines Menschen zuerst nicht wahrhaben und braucht einfach Zeit, das zu realisieren. Viele Menschen realisieren erst, wenn der Mensch gestorben ist, dass die Zeit vorher ein Sterbeprozess war. Außerdem hat deine Mutter offensichtlich einiges verheimlicht, das euch beim Realisieren geholfen hätte. Nimm dieses Päckchen von deiner Schulter unter deinen Arm und verlass das Zimmer.
Das Zimmer ist nicht dein Zimmer, sondern das deiner Mutter und die Schuldpakete in Ecke 1 und 2 kannst du dort lassen.
Bleibt noch Schuldpaket Nr. 6 übrig:
6. Der Todeskampf, bei dem ihr zugesehen habt: Wie sah dieser Todeskampf aus? Was hättest du tun können, um diesen Todeskampf zu erleichtern? Hätte es tatsächlich etwas gegeben, das du machen hättest können, dass es für sie leichter gewesen wäre? Wäre das in deiner Macht gelegen?
Nimm die Päckchen Nr. 5 und 6 mit und bring sie in ein anderes Zimmer. Das ist dann deines. Ich denke nicht, dass du Schuld hast, aber ich glaube, dass du hier noch ein bissl dran arbeiten musst, dass dir das auch klar ist und dass du eine Ecke in deinem Zimmer dafür aussuchst.
Vielleicht hilft dir der Gedanke: Schuldgefühle zu haben, heißt nicht, schuldig zu sein. Fast alle Trauernden haben in der Anfangsphase der Trauerarbeit Schuldgefühle, denn man hat leicht das Gefühl, dass man MEHR tun hätte können. Diese Schuldgefühle sind ganz normal und es ist einfach Teil der Trauerarbeit, sie zuzulassen und sie zu bearbeiten.
Sie hier zu diskutieren, finde ich eine gute Strategie, denn die Leute im Forum kennen solche Gefühle nur zu gut!
Also, ich bin gespannt, was du jetzt sagen wirst!
Alles Liebe
Christine