Liebe Annie,
die Tage verbringe ich sehr geruhsam, zurückgezogen und unaufgeregt. Mit einem Wort, für viele vermutlich ziemlich langweilig. Nächsten Monat werde ich 68 J und habe mein Berufsleben schon eine Weile hinter mir. Ich stehe vormittags auf wann es mir behagt, trinke dann erstmal Kaffee und lese Zeitung. Und bis der Kaffee Trinktemperatur hat schmeckt die erste Zigarette des Tages auf dem Balkon. Ich mache die Hausarbeit wobei ich mich aber nicht überschlage, gehe einkaufen wenn es nötig ist, verträume manche Stunde, höre Musik, lese auch gerne Bücher und mache dieses und jenes am Laptop, z.B. im Forum sein. Ich telefoniere und maile regelmäßig mit den Geschwistern von Andreas. Da sie in Berlin wohnen können wir uns leider nicht mal eben so treffen. Mit der noch vorhandenen Verwandtschaft von meiner Seite bin ich auch telefonisch und online in Kontakt, aber nur unregelmäßig. Mit meiner Freundin und Bekannten aus der Nähe treffe ich mich ab und zu. Da ich alleine lebe hat sich mein Wach/Schlafrhythmus seit Andreas` Tod sehr verschoben. Meistens gehe ich erst nach 2 Uhr morgens ins Bett.
Andreas ist nicht durchgehend in meinen Gedanken, das geht ja auch gar nicht, aber oft. Und jetzt kurz vor seinem Todestag noch öfter. Ich bin gerade dabei die Anzeige zu seinem 3. Todestag zu gestalten. Die wird dann wieder in unserer Tageszeitung erscheinen. Und mein Andreas ist mir während des Gestaltens besonders nahe. Aber das ist ja kein Wunder. Ansonsten ist es manchmal so daß mir völlig grundlos eine Begebenheit in den Sinn kommt, oder ich sehe sein Bild (es hat Monate gedauert bis ich nach seinem Tod wieder ein Bild von ihm angucken konnte), und es trifft mich wie ein Hammerschlag. Andreas ist nicht mehr da und kommt auch nicht mehr wieder. Und dann ist sofort der Schmerz wieder da und ich könnte Löcher in die Tischkante beißen.
Manchmal kann ich aber auch für eine Weile an die Zeit mit ihm denken ohne daß es weh tut. Dann kann ich auch lächeln oder sogar herzhaft lachen, wenn mir dies oder das durch den Sinn geht, z.B. wie er beim letzten Besuch bei seiner Schwester auf den Rand vom Katzenklo getreten ist. Dieses hat natürlich abgehoben und seinen Inhalt weiträumig verteilt. Meine Schwägerin sagte kürzlich, was wäre es doch so schön wenn Andreas noch mal das Katzenklo umtreten könnte. Das fand ich auch. Tja, und so wird es wohl bis an mein Lebensende sein. Mal geht es, und dann wird der Schmerz wieder übermächtig.
Und nein, ich empfinde mein Leben nicht mehr als lebenswert. Da liegst Du völlig richtig. Rein äußerlich geht es mir sogar sehr gut. Ich bin gesund, habe keine finanziellen Probleme, eine nette Wohnung und für meine Bedürfnisse genug soziale Kontakte. Das Dummer ist nur daß mich nichts mehr wirklich freut seit Andreas nicht mehr da ist. Ich sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben, frage mich immer wieder warum ich noch hier aushalten muß. In mir ist eine große Sehnsucht nach meinem Andreas, mal wieder in den Arm genommen zu werden, lieben dürfen und geliebt zu werden. Aber das wird in diesem Leben nicht mehr so sein. Ein anderer Mann ist nicht vorstellbar. Das würde sich anfühlen wie fremdgehen. Natürlich könnte ich mich ehrenamtlich betätigen, habe ich auch schon mal gemacht. Aber ich sage es ganz ehrlich, ich will mich nicht mehr verpflichten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Ich möchte spontan entscheiden können ob ich vor die Tür gehen will, oder eben nicht.
Du schreibst, daß Du/Ihr wohl noch lange ohne Deinen Papa leben müßt. Das kann natürlich niemand wissen, aber nach menschlichem Ermessen müßt ihr damit rechnen. Ich weiß nicht wie alt oder jung Deine Mama ist. Du hast zwei kleine Kinder, bist vermutlich noch nicht mal halb so alt wie ich, wirst also noch etliche Jahre vor Dir haben. Da bin ich schon sehr froh, daß es für mich wohl nicht mehr so viele Jahre sind, obwohl es noch genug sein werden. Und bei dem Gedanken daß es vielleicht noch 10 oder gar 20 Jahre sein können wird mir ganz anders. Wie das auszuhalten wäre weiß ich auch noch nicht. Meine Freundin hat vor einiger Zeit zu mir gesagt, irgendwann verwandelt sich die Trauer in Wehmut. Papperlapapp. Bei Gelegenheit werde ich sie mal fragen ob ihr Mann für sie irgendwann nur noch eine wehmütige Erinnerung wäre. Vermutlich und wie ich sie kenne und einschätze eher nicht.
Wie schon mal gesagt, ich habe kein Patentrezept, mache einfach weiter, Tag für Tag.
Außerhalb des Forums versuchen viele immer das Thema zu umgehen. Und hier wird jede Aussage ernst genommen, Verständnis aufgebracht.
Viele Menschen verdrängen den Gedanken an den Tod obwohl ihm ja keiner entkommen kann. Dementsprechend ist dann der Umgang mit Trauernden. Sie werden mit ihrer Trauer als lästig empfunden weil man dadurch an die eigene Vergänglichkeit erinnert wird. Das mag manchmal gar keine böse Absicht sein, ist aber wie ein Schlag ins Gesicht. In diesem Forum ist das anders weil wir alle wissen wie es ist. Wenn der Schmerz ohnmächtig und hilflos macht, wenn die Gefühle nicht wissen wohin, wenn der seelische Schmerz körperlich spürbar wird. Niemand kann den eigenen Verlust oder den der anderen Trauernden rückgängig machen, aber wir trösten uns und fangen uns auf weil wir eben wissen wie es ist. Und jede Trauer, jedes Befinden wird ernst genommen, denn es ist ernst.
So, nun habe ich ganz offen und ungeschminkt über mich und meine Gefühle geschrieben. Hoffentlich war es nicht zu langweilig. Aber nun höre ich auf, es ist auch schon wieder gleich 2 Uhr.
Ich würde Dir gerne sagen können der Schmerz vergeht, irgendwann tut es nicht mehr weh. Aber das kann ich nicht. Es wird immer schmerzen und weh tun. Andernfalls hat man nicht wirklich geliebt. So sehe ich das jedenfalls. Und es heißt ja nicht umsonst, Trauer ist der Preis den wir für unsere Liebe bezahlen. Aber wahre Liebe ist jeden Preis wert.
Ich denke an Dich/Euch 

Lilifee