Welchen Sinn hat mein Leben noch?
"Ich frage mich, wofür es sich noch zu leben lohnt", sagte eine Frau leise. "Meinen Partner musste ich zu früh schon zu Grabe tragen. Nun bin ich allein. Gemeinsam hatte das Leben Sinn. Nun gibt es kein Ziel mehr und nichts, wofür es sich noch zu leben lohnt."
Es schien, als ob die Frau diese Sätze eher zu sich sprach. Also antwortete die alte, weise Frau nicht darauf, sondern erzählte diese Geschichte:
In einem fernen Land, lange vor unserer Zeitrechnung, war Folgendes üblich: Wenn ein König starb, so musste seine Gemahlin mit in den Tod gehen, dass sie ihm eine Gefährtin auf dem Weg ins Jenseits sei.
So wurden die Frauen der Könige mit ihrem Gatten begraben, unabhängig von ihrem Alter. Zwei Ausnahmen gab es für diese Regel. War die Frau sehr krank, so durfte sie weiter leben, denn eine kranke Frau, so sagte man, könne dem König auf dem Weg ins Jenseits keine Hilfe sein, sie würde ihm sowieso bald folgen. Ebenso verhielt es sich, wenn die Frau geistig verwirrt war. Sie würde ihn belasten, sagte man, also lies man einer solchen Frau das Leben.
Es begab sich nun, dass ein junger König im Kampf schwer verletzt wurde; er rang mit dem Tod, doch starb nach einigen Wochen. Sein Gesicht war noch schmerzverzerrt, als er zu Grabe gelegt wurde. Als man seine Frau holen wollte, sie mit ins Grab zu legen, musste man erfahren, dass der Schmerz um Krankheit und Verlust ihres geliebten Gatten ihren Geist verwirrt hatte.
Den größten Teil der Tage verbrachte sie damit, mit einem großen Korb durch den Palast, durch Straßen und über Felder zu gehen. Schier endlos betrachtete sie dabei die Pflanzen, den Sonnenuntergang sowie des Nachts die Sterne. Sie lächelte fremden Menschen zu, und spielte mit Kindern auf der Straße. Einige behaupteten, man habe sie mit Tieren sprechen gehört. Nein, diese Frau sollte nicht mit dem König gehen. So behielt sie ihr Leben.
Mit der Zeit vergaß man sie und den König.
Jahrhunderte später stießen Forscher auf ein Grab aus jener Zeit. Als man es öffnete fand man darin zwei mumifizierte Menschen, den Leichnam eines jungen Königs und neben ihm den Leichnam einer viel älteren Frau, die einen großen Korb umschlungen hielt. Man rätselte, wer diese Frau sei, da Könige doch ihre Gattinnen mit ins Grab nahmen. Erst als man den Text auf der Schriftrolle entzifferte, die als einzige Beigabe im großen Korb lag, wusste man, wer hier ewige Ruhe fand:
"Hier bin ich nun, mein Liebster. Ich habe den Weg vollendet, dessen ersten Abschnitt wir gemeinsam gingen, denn schmerzerfüllt und mit leeren Händen wollte ich dir nicht folgen. Ich habe mir Zeit gelassen, die Sonnenstrahlen des Tages zu sammeln, sowie das nächtliche Glitzern der Sterne, den Anblick wunderbarer Blumen, den Duft frisch gemähter Wiesen, die fragenden Blicke der Fremden und das lebendige Lachen der Kinder, auch Trauer und Trost, Einsamkeit und Erfüllung, Sehnsucht und Glück.
So kann ich dir nun viel von dem mitbringen, was dir nicht mehr vergönnt war. All das wäre für uns verloren gewesen, wenn ich nicht weiter durchs Leben gegangen wäre. Nun haben wir all dies für unseren weiteren Weg in die Ewigkeit."
Die Forscher, die das Grab geöffnet hatten, berichten, dass man im Gesicht des verstorbenen Königs deutlich ein Lächeln erkannte.
Als die weise Frau, die zwischen ihren Büchern saß, diese Erzählung beendet hatte, blieb es still. Über die Wangen einiger Zuhörer liefen Tränen.
Niemand sah die Frau an, die mit ihrer Frage danach, welchen Sinn ihr Leben habe, diese Erzählung ausgelöst hatte, bis plötzlich jemand sie spontan und lange umarmte. Und von irgendwoher klang ein "Danke" in den Raum.
Text: Frank Maibaum / Aus seinem Buch: