Liebe Karin,
ja, diese Vorwürfe kenne ich nur zu gut. Monatelang habe ich mich gefragt, warum wir an diesem Tag nicht anders reagiert haben. Aber sie führen zu rein gar nix und ändern können sie auch nichts mehr - leider. Ich habe sehr lange gebraucht, um es einzusehen und damit aufzuhören.
Etwa drei Wochen zuvor stöhnte mein Mann über schmerzende Beine. Er hatte bei Bekannten die Wohnung tapeziert und ich meinte: "Du bist es einfach nicht mehr gewöhnt so lange auf der Leiter zu stehen". Immer wenn er jammerte, zog ich ihn damit auf und einmal meinte ich sogar, dass er total "uncool und unmännlich" sei. Er revangierte sich dafür, als ich kurz darauf heftige Halsschmerzen bekam und kaum schlucken konnte: "Du brauchst was reden über jammern und uncool". Tja, so waren wir zwei. Immer einander liebevoll neckend.
Am Donnerstag vor dem Debakel meinte er wieder, dass ihm die "Füße weh tun". Er hatte rund 20 Schubkarren mit Erde voll geschaufelt und in unseren Garten geführt. "Mir täte der ganze Körper von den Haar- bis in die Zehenspitzen weh", habe ich zu ihm gesagt. Sonntags darauf kam er erst nach 10 Uhr aus dem Schlafzimmer und beschwerte sich bei mir über seinen rechten Unterschenkel: "Es zieht so komisch und ist ganz fest. Greif mal!" Ich griff nicht, weil ich ihm nicht noch mehr weh tun wollte. Nach dem Frühstück gab ich ihm eine aufgelöste Magensiumtablette, weil ich an einen Wadenkrampf dachte. Den ganzen Tag hing er vor dem Fernseher herum und hin und wieder nickerte er ein. Bevor er in den Nachtdienst ging, murmelte er noch, wie blöd es sei, wenn einem die ganze Woche die Füße schmerzen. Erschrocken fragte ich, was er denn am Vortag im Dienst gemacht hätte. "Da haben sie nicht weh getan", brummte er. Keine Stunde darauf war er tot. Die Schmerzen kamen von einer tiefen Beinvenenthrombose, die sich löste und zu einer massiven Lungenembolie führte.
Immer wieder hämmerten die Gedanken durch meinen Kopf, warum ich ihn nicht ins Krankenhaus gebracht habe, warum er nicht früher zum Arzt gegangen ist, warum seine Schwester, die Sanitäterin bei einer Rettungsorganisation ist, gerade an diesem Tag nicht auf dem Heimweg vom Waldviertel bei uns vorbeigeschaut hat, wie sonst auch. Warum? Warum? Warum? Alle um mich herum versuchten mich zu beruhigen und sagten mir, dass wir es nicht wissen konnten und keine Schuld haben. Sogar unser langjähriger Hausarzt meinte, er hätte meinen Mann in den Wochen zuvor wahrscheinlich auf Muskelverspannungen oder Zerrungen behandelt. Die Thrombose hätte nur ein Spezialist am Tag des Geschehens erkennen können.
Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass mein Schatz einmal einen Herzinfarkt gehabt hat, weil eine Narbe am Herzen entdeckt wurde. Nach erster Fassungslosigkeit fiel mir dann auch ein, wann das gewesen sein muss. Im August 2009 stand er eines Nachts neben mir. Er krümmte sich vor Schmerzen im Oberbauch, war kreidebleich und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Nachdem mein Goldstück ausgesprochen gerne gut und reichlich aß, hatte er manchmal Probleme mit dem Magen. An diesem Tag gab es Schwammerlsoße und so nahmen wir an, dass er einfach zu viel gegessen hatte und ihm das schwere Essen im Magen lag, aber nachdem es ihm trotz mittlerweile leerem Magen nicht besser ging, rief ich den Notarzt. Nach Schilderung der Symptome bekam er ein krampflösendes Mittel gespritzt, dass genau nix half. Als auch eine zweite krampflösende Spritze die gewünschte Wirkung verfehlte, forderte die Notärztin die Rettung an und mein Mann wurde ins Spital gebracht.
Am nächsten Morgen rief er mich an, ich solle ihn abholen. Er saß auf einem Bett am Gang und sah einfach fürchterlich aus. Auf die Frage, was gewesen sei, sagte er: "Nix, bin am Tropf gehängt". Als ich mich nach Entlassungspapieren oder Befunden erkundigte brummte er: "Gibt's kane. Ich hab ein Rezept für die Apotheke und jetzt will ich heim". Bis heute habe ich nichts, absolut nichts vom KH bekommen.
Liebe Karin, wenn eine Notärztin bzw. ein Krankenhaus zu blöd sind, einen Herzinfarkt zu erkennen und ein Hausarzt zugibt, nicht im Entferntesten an eine Thrombose gedacht zu haben, wie sollen wir dann erkennen, was los ist. Vielleicht hilft dir das ein wenig, deine Selbstvorwürfe zu vermindern.
:24: dich ganz lieb und eile jetzt zur Arbeit
Dschina