Liebe Karla,
meine Vorschreiberinnen haben es eh schon auf den Punkt gebracht: Das ist alles viel zu viel, das raubt dir Kraft. Du bist ja noch im Trauerprozess um deinen Vater, hattest/hast große Sorgen um deinen Mann und auch um deine psychisch kranke Tochter. Das ist schon zuviel. Der Tod deines Bruders ist jetzt einfach ein weiteres traumatisches Erlebnis. Da ist soviel emotionale Arbeit, die du leisten musst, die ansteht, dass die Ablenkung nicht wirklich funktioniert und dann ist die Arbeit im Moment zwar vielleicht eine Möglichkeit sich kurz abzulenken, aber du kommst vom Stress dadurch nicht runter! Außerdem ist deine Arbeit ja thematisch so stark mit Krankheit und Tod verknüpft, dass du da nicht wirklich Ablenkung hast ....
Ich glaube, dass das alles zusammengenommen eine furchtbare Belastung bedeutet und du aus einem Kreislauf aus Trauma und Stress nicht herauskommst. Der Einfachkeit halber kopiere ich jetzt ein paar Ausschnitte aus meinem Skriptum für Krankenpfleger
heraus, vielleicht kannst du dir da ja was herausnehmen, um aus deinem Stress-Teufelskreis herauszukommen.
Wenn ich mir einen Schiefer einziehe, wird dieser vom Organismus angekapselt und durch den Eiterprozess ausgestoßen. Im Grunde versucht unser Organismus das auch, wenn ein traumatisches Ereignis geschieht, er versucht als erste Reaktion das "Monster" abzukapseln und abzustoßen. Das ist eine primitive Überlebensstrategie des Menschen, die dem Flucht-Impuls folgt. Wenn unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis Schock und Gedanken wie „Das ist nicht wahr“, „Das passiert nicht mir!“ als Reaktion entstehen, dann sind diese Reaktionen Fluchtversuche vor der Realität als Schutzmaßnahmen.
Neben der Gefühlstaubheit und dem Schock reagiert der Organismus aber auch mit physiologischer Übererregung, weil er ja auf Flucht ist. Das bedeutet also Stress!
Wichtig für den Verarbeitungsprozess ist es, aus dem Fluchtverhalten herauszukommen und die Realität Stück für Stück zu akzeptieren. Der Trauer- und Bewältigungsprozess verläuft durch ein Hin- und Herpendeln zwischen einerseits der Konfrontation mit dem Ereignis und andererseits der Distanzierung und Ablenkung zur Erholung.
Konfrontation fördert emotionale Überwältigung und Verarbeitung
Vermeidung und Ablenkung stellen eine Art Schutz für den Betroffenen dar und halten die Überwältigung in einem bearbeitbaren Maß. -> Liebe Karla, das versuchst du mit Arbeit, aber deine Arbeit lenkt nicht wirklich ab und sie ist körperlich und emotional anstrengend!
Um eine positive Bewältigung zu gewährleisten, ist es notwendig, eine Balance/einen Wechsel zwischen Überwältigung und Vermeidung herzustellen. Negativ = Fixierung in einem der beiden Zustände!
Fixierung in der Überwältigung:Wenn Betroffene in der Trauma-Kapsel hängen bleiben oder immer wieder traumatisiert werden, dann werden Konfrontation und Überwältigung zu viel und können nicht mehr bewältigt werden. Es entsteht auch ein neurologischer Kurzschluss: Durch das permanente Wiedererleben, Denken und Erinnern an das Trauma/die Traumata und die Bealstungen finden ständig Retraumatisierungen statt, und Betroffene hängen in einer "Trauma-Schleife" und kommt auch vom Stress nicht runter!
Symptome: Hilflose Überflutung, dauerhafte Erregung, Retraumatisierung, körperliche Erkrankung
Fixierung in der Distanzierung: Wer das Trauma nicht integrieren kann, kann es nicht bearbeiten und bewältigen. Die Gefahr von Somatisierungen oder von verzögerten und auch pathologischen Trauerreaktionen wird erhöht.
Symptome: Apatisch-depressiv, emotionale Taubheit, katatones (starres, angespanntes) Verhalten, körperliche Erkrankung
Sowohl die permanente Überwältigung und Überflutung durch Erinnerungen als auch das permanente Abwehren von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und sich Ablenken brauchen enorm viel Energie. Körperliche Symptome und Schlafstörungen sind deshalb vorprogrammiert, weil das Nervensystem in beiden Fällen dauerhaft übererregt ist.
Hilfestellung: Pendeln fördern
Aktive Bewältigungsstrategien zur Konfrontation
Passive Bewältigungsstrategien (Z.B. Grübel-Fragen stoppen) erkennen und reduzieren/verhindern
Distanzierung und Erholung bewusst suchen (Was tut mir gut? Was gibt mir Halt?)
Maßnahmen der Stressreduktion und Entspannung als Ausgleich zur Übererrgung:
Stressreaktionen treten immer auf 4 Ebenen auf
körperlich: Puls, Blutdruck, Muskelspannung, Atemfrequenz, Schwitzen, Zittern, Verdauung .....
emotional: Angst, Ärger, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Trauer, Schuld
gedanklich: Konzentrationsprobleme, Grübeln, Selbstvorwürfe, Denkblockaden, Chaos oder Leere im Kopf
Verhalten: Unruhe, Hast, Übererregung, Gereiztheit, planloses Handeln, Betäubungsverhalten (Medikamente, Alkohol, Arbeit)
Den Trauamstress muss man auf allen 4 Ebenen abbauen
Was belastet mich?
Was mich stresst erkennen, mildern, ausschalten, entspannen, gegenwirken
Wo/bei wem kann ich Sicherheit finden?
Wer kann mir Arbeit abnehmen, an wen kann ich was delegieren?
Gedanken wirken wie Filter:
Das ist eine Katastrophe, das schaffe ich nie!“ = problemorientiert
„Das ist eine Katastrophe, aber ich werde das schaffen!“ = lösungsorient
--> Eigene Bewertung der Situation überprüfen (evt. „Filter wechseln“)
Grübel-Fragen (W-Fragen) erkennen und stoppen:
Wie hätte ich das verhindern können?
Was wäre gewesen, wenn ich …
Warum passiert das mir?
Belastungsreaktionen:
Stressreaktionen als solche erkennen und Möglichkeiten zum Entspannen suchen.
körperliche Entspannungsverfahren sind sehr wichtig!
Liebe Karla, mir kommt vor,bei dir ist alles so dermaßen viel, dass du aus der Trauma-Stress-Schleife im Moment nicht rauskommst. Versuche mal dir zu überlegen, wie du auf allen 4 Ebenen ruhiger werden kannst. Wenn das nicht klappt, dann würde ich dir wirklich empfehlen, dass du über das Trauerforum hinaus noch Unterstützung durch einen Arzt (evt. Medikamente?) und einige Sitzungen bei einer Psychologin/Psychotherapeutin, die dir dabei helfen, an deinen Ressourcen zu arbeiten. Was meinst du?
So, das ist ein langer Artikel geworden! Er ist fast schon klugscheißerisch-unsympathisch
, aber ich wollt das mal hier deponieren, dass man nachlesen kann, was nach massiven Traumata so alles abgeht und bedacht werden muss!
Alles Liebe
Christine