Liebe avi,
herzlich willkommen bei uns, du hast - Heinz Dieter bringt es auf den Punkt - ein bewegendes Schicksal hinter dir.
Ich denke, dass du deinen leiblichen Vater idealisierst, weil du ihn nicht kanntest und deine schwierige Kindheit und Jugend allein deiner Mutter zuschreibst. Sie war - so wie du sie beschreibst - eine Frau die keine Liebe geben konnte und hat euch alle mit dem gewalttätigen Mann in eine sehr schwere Situation gebracht, die ihr selbst dann zum Verhängnis wurde.
Mütter, die ihren Kindern keine Liebe geben können, sind meist als Kinder selbst emotial vernachlässigt worden und hatte eine schwere Kindheit.Weißt du wie sie aufgewachsen ist? Das Vererben von emotionlaer Unfähigkeit ist ein sogenanntes "transgerneratives Phänomen", das heißt, es wird sehr häufig von Generation zu Generation weitergegeben. Vielleicht kannst du dein Bild von deinen leiblichen Eltern differenzieren, indem du dir vor Augen hältst, dass deine Mutter das alles sicher nicht wollte, es aber aufgrund ihrer eigenen Geschichte nicht anders konnte.
Dein Vater, den du ja zu wenig kanntest, ist als dein leiblicher Vater ein ganz wichtiger Mensch in deinem Leben, zumal er ja immerhin 4 Jahre deines Lebens begleitete, auch wenn du dich nur mehr an seinen Todestag erinnern kannst. Vielleicht hat er tatsächlich in diesen 4 Jahren die mangelnde Wärme deiner Mutter ausgeglichen. Wenn das so war, dann hast du großes Glück, denn diese Jahre sind für ein Kind und seine emotionale Entwicklung besonders wichtig, auch wenn du dich konkret nicht mehr erinnern kannst. Ganz sicher war dein Vater aber ein Mensch wie wir alle - mit seinen Fehlern und Schwächen - und kein Heiliger. Versuch dir das einfach so vorzustellen, einfach, dass du nicht Gut und Böse zu krass aufteilst in Mutter=böse, Vater=gut. Das hilft dir vielleicht ein bisschen von der Fixierung und Wut wegzukommen.
Zur Situation mit deinen Pflegeeltern: Zwischen Müttern und Töchtern gibt es oft Reibereien bzw. Kämpfe, die erst in der Pubertät richtig losgehen, (das war bei mir auch nicht anders
). Das ist zwischen Pflegemüttern und -töchtern sehr ähnlich. Ich würde sogar sagen, da ist das Konfliktpotenzial und die Konkurrenzsituation "natürlich" noch größer, v.a. denke ich, dass für deine Pflegemutter die Konkurrenzsituation besonders schwierig wurde, als sie merkte, dass du dich von ihr eher abgewendet hast und dann zu deinem Pflegevater hingewendet hast.
In jeder Familie gibt es 2er-Bündnisse. 3er-Büdnisse sind ungewöhnlich, weil wir Menschen von Natur aus auf 2er-Bündnisse programmiert sind. Wenn nun 3 Menschen in einer Familie sind (und das wart ihr ja, nachdem dein Bruder ausgezogen ist) und sich die Bündnissituation verändert, dann gibt es immer Probleme. Das ist ein natürliches Phänomen. Sinnvoll wäre es nun die Bündnis-Situation zu einer 3er-Allianz zu erweitern, dass sich deine Pflegemutter nicht ausgeschlossen fühlt (wenn du das Verhältnis verbessern möchtest).
Du leidest sehr darunter, dass - außer deinen beiden Brüdern - niemand mehr von deiner leiblichen Familie da ist, ich denke, das gibt dir das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich denke, du bist am richtigen Weg, wenn du weiterhin die Erinnerung an deine leiblichen Eltern aufrecht erhältst. Vielleicht magst du ja an beide einen Brief schreiben?
Mir kommt aber auch vor, dass du trotz der Konflikte mit deinen Pflegeeltern, dennoch Glück im Unglück hattest, sie dich beide liebten und dir einiges ermöglichten. Oder täusche ich mich?
Vielleicht gelingt es dir ja, über die Distanz durch den Auszug wieder einen Draht zu den beiden zubekommen. Sie haben dich ja insgesamt länger als Kind gehabt als deine leiblichen Eltern und insoferne sind sie ja auch Eltern, die für dich einen wichtigen Boden in dieser Welt bereiten.
Ja und zum Schluss: Deine Wut oder deinen Hass auf den Mörder deiner Mutter, der euch Kindern ja auch Gewalt angetan hat, kann ich absolut nachvollziehen. Aber ich denke mir, dass ein Gespräch mit ihm, dir Erleichterung bringen kann, weil du dann ein klareres Bild von ihm bekommst und das heißt, du musst dich weniger mit Phantasien herumquälen und kannst dich dann mit dem ganz konkreten Bild beschäftigen, das du von ihm hast, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Bild ist: Jedes konkrete Bild ist besser als Phantasien.
Die neue Frau, die mit ihm zusammensein will, ist eine erwachsene Frau, die von seiner Vorgeschichte weiß. Du bist nicht für sie verantwortlich.
So, das war ein langer Text, ich hoffe, ich hab dich nicht zugetextet 
Alles Liebe
Christine