Lieber Dieter,
wie geht es dir?
Ich meine das ganz ernst, mit "nicht vergrämen", vielleicht sollte ich auch klar sagen - obwohl Männer das so ungern hören - nicht verletzen.
Was nun kommt ist eine Wortflut die du lesen kannst, aber nicht musst - denn was wichtig ist steht in der Zeile oben.
Ich mag und schätze dich, und das weiß du ja auch. Mit "Geschichte" meinte ich die persönliche Geschichte. Deine und meine Biographie, also was wir z.B. mit Waggerl verbinden, du vielleicht etwas Romantisches, ich dass er Teil einer Lüge war die mir sehr weh getan hat. Welcher Generation wir angehören, wo wir aufgewachsen sind und und und.
Ich mag es auch wenn Kunst mich verstört, irritiert, hinterfrägt, z.B. Helnwein, Bansky, Tracey Emin, Marina Abramovic, Valie Export, .. um nur einige zu nennen etc. Es muss nicht immer die Transzendenz der puren Schönheit sein. Wie ist das bei dir? Was denkst du? Willst überhaupt noch darüber reden oder genießt du lieber den Sommer?
Und ja, da unterscheiden wir uns - ich finde die Geschichte der Menschen hinter dem Werk, oder die ein Werk erschaffen haben spannend. Es geht eben nicht darum das Ganze und auch den Künstler/Künsterlin "anzubeten". Auch wenn diese Geschichte Brüche hat, oder Untiefen, nur "echt" soll sie sein. Das Werk, wenn es gut ist hält es doch auch aus wenn der Schaffende seine Abgründe hatte? Man muss also den oder die Urheber / Urheberin nicht "schön reden" finde ich. Das Werk hält das aus, und der oder die Schaffende auch, sag ich mal.
Andererseits bekommen die Bilder und Skulpturen von z.B. Käthe Kollowitz noch einmal eine ganz andere Kraft wenn man ihre persönliche Vita kennt. Der Angelus Novus von Max Klee, und Walter Benjamins höchst berührender Text dazu. Ich kann ihn ja verlinken, er ist in kleinster Weise gehässig.
Oder auch "Art Brut" - ganz offiziell oder inoffiziell Bilder und Texte von Menschen, die psychische Erkrankungen haben.Und auch diese Liste ließe sich weiter fort setzen. Diese Lebensgeschichten können auch Mut machen, noch einmal ganz besonders Inspirieren.
Ist es nicht so dass die Kunst sich der Wahrheit verpflichtet, und zu keiner Zeit der Lüge? Freiheit und Kritik, Opium fürs Volk wächst anderswo, polemisch gesprochen. Natürlich erzeugt die Kunst Illusionen, aber sie selbst kann sich vielleicht in einer Form der Wahrheit nähern, auch der menschlichen psychischen Wahrheit, wie es sonst nur eine komplexe Formel kann die irgend ein Teilchen vorhersagt dass dann auch auftaucht (grad so geschehen - Heisenberg ahoi ;-))
Ich lese gerne mal Briefe von Mozart, Chopin, Frida Kahlo, Bachmann, Frisch... (wobei gerade das ist ein heikles Thema - hätten die das gewollt?), Biographien. Zu wissen dass Dali Ameisen malte weil er als Kind welche auf einem Igel sah, oder von Kubin einen Roman zu lesen, gerade auch bei Leonardo da Vinci steckt eine spannende Geschichte dahinter. Du magst sicher die "Geburt der Venus" - also zumindest ist das meine Phantasie zu dir. Ein berauschendes Bild.
Ich bin sehr froh dass weder Bilder noch Werke verbrannt und verbannt werden, dass es den Begriff "entartete Kunst" nicht mehr gibt.
Im "schwarzen Quadrat" von Frisch beschreibt er eben dieses Kunstwerk so schön als Symbol. Das Bild, das damals im Keller der Eremitage ist, weil es nicht gezeigt werden darf, weil es die Leute nur durch seine Existenz so verstören würde, wurde ihm gesagt.
Und dann die große Enttäuschung. - zum Beispiel ganz persönlich für mich..Dombrowsi, den ich erwähnte.
Hab ich gegoogelt und wieder mal tut sich ein Abgrund auf. Es ist eben genau so: man schaut die Bilder an, man schaut die Menschen an und man kann es nicht ausmachen - was und wo ist das Böse genau, das Abgründige, das unmenschliche. Woran kann man es fest machen?
Es lässt sich nicht klar trennen, aber es tot zu schweigen nützt auch nichts. Ganz im Gegenteil, das finde ich brandgefährlich. Natürlich kann ich es akzeptieren dass Dombrowski ein ganz aktiver Teil des grauenvollen NS Regimes war, und die Überzeugungen verteidigt hat, propagiert hat, es mitgetragen hat. Ich bin traurig und entsetzt, weil ich seine Bilder immer mochte. Ich bin aber auch froh es zu wissen, wesentlich froher als in irgend einer Illusion zu leben.
Vor Jahren fand ich ein ganz kleines, handsigniertes auf einem Müllberg,es zeigt ein kleines Kind das wie ein Engel anmutet, in einem Art Kokon, der Berg an Dingen war wohl von einem Nachlass. Ich habe es genommen, grad noch vorm Regen gerettet, hab mich so gefreut. Ich habs nun im Zimmer meines Kindes aufgehängt, und ja da hängt es noch. Sollte mich mein Kind einmal danach fragen werde ich offen zu ihm sprechen, mit angemessenen Worten. Was sonst sollte ich tun?
Schöne Worte sind nicht wahr, wahre Worte sind nicht schön... sagt das Tao te King.
Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.. sagt Bachmann.
Max Frisch sagte ...man soll die Wahrheit den Menschen hinhalten wie einen Mantel in den er hinein schlüpfen kann und nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren schlagen.
Dass der Artikel so bei dir ankam, tut mir leid. Ich mag das bei mir, weil der nasse Waschlappen mich wie aus einer Ohnmacht holt. Eine gefühlte und tatsächliche Ohnmacht. Schweigegelübte.
Ja, das hier ist ein Trauerforum und ich hole weit aus. Für mich ist das ganz ein fundamentaler Teil der Trauer weil es ein Thema ist, über das kaum oder wenn nur emotional höchst aufgeladen gesprochen wird. Es macht die Trauer auch nicht einfacher, ganz im Gegenteil.
Meiner Mutter war ich für die offene, kontroverse und intensive Diskussion immer dankbar.
Es war für sie nicht leicht, sicherlich sehr schmerzvoll. Sie war liberal eingestellt. Und sie hat gesagt "mach aus deinem Herzen keine Mördergrube" - (das ist leider nicht so leicht wenn man auf Mördergruben stößt).
Sie hat als kleines Kind das Grauen des Krieges erlebt und sie wollte wohl in erster Linie nur eines: dass ich das nicht erleben muss,...dass Kinder und Kindeskinder nicht erleben müssen...
hilft hier eine Todschweigen, ein Schönreden? Vergebung muss sein, schon alleine für die nächsten Generationen. Aber Vergebung braucht Diskussion. Oder zumindest Augenkontakt.
In meiner Phantasie sitzen Waggerl und Thomas Bernhard im Stiegl Bräu und diskutieren den Artikel.
Waggerl würde vielleicht sogar sagen - was für ein Glück ihr habt in einer Zeit zu leben, wo ihr so etwas schreiben und lesen dürft.
Etwas naiv, magst du denken. Ja, warum auch nicht?
Auf der Rückseite des Bildleins...fand ich dann den Spruch von
Angelus Sibelius...
Mensch
wirst du nicht
ein Kind
so gehst du
nimmer ein
wo Gottes
Kinder sind
die Tür ist
gar zu klein.
so, jetzt habe ich sehr viel - vielleicht zu viel - geschrieben.
Ich hoffe deine Morbus Dieter Ader peinigt dich nicht allzu sehr
und deine Augen flimmern nicht vor der Wortflut.
Ich schreib das einfach weil ich dich schätze,
und gerne mit dir diskutiere. Natürlich hat genau diese Diskussion bei mir auch viel ausgelöst, ein Zufall - oder hast du ein Gespür für Schwachstellen?
Sollte dich das nerven, dann tut es mir leid. Es ist ja ein Trauerforum hier und kein Belästigungsforum.
Vor allem aber hoffe ich dass es dir gut geht
und du schöne Tage in deinem verzauberten Haus im Wald hast.
Sonderling bist du sicher keiner
eher ein verborgener Zauberer...
mit liebem Gruß,
Malena