Mein Arbeitstag ist fast zu Ende heute. Ich habe viel erledigt, bin mit mir zufrieden. War auch ein bisschen unterwegs, das hat mir Zeit zum Nachdenken gegeben.
Es ist seit ein paar Monaten so, dass ich mich erstaunlich gefasst fühle - abgesehen natürlich von krisenhaften Momenten und der Angst, die mich überkommt, wenn ich mir die weitere Entwicklung ganz plastisch vorstelle (das soll man nicht zu exzessiv tun, sagt die Psychologin bei der Krebshilfe).
Aber oft, erstaunlich oft, ist es so, dass ich mich irgendwie behütet fühle. Das Schlimme ist passiert (wir haben die Diagnose bekommen) es passiert gerade jetzt (in Rudis Körper) und es wird noch schlimmer werden (das ist dann der Abschied). Und obwohl das Schlimme passiert (ist), mitten in dem Schlimmen, fühle ich mich (heute) behütet.
Ich weiß nicht, woher das kommt. Ich weiß nur: es kommt nicht aus mir allein. Sind es die guten Gedanken anderer Menschen? Ist es die Kraft, die man in schwierigen Situationen entwickelt (so wie Glückshormone beim Laufen)? Oder ist es doch auch die Kraft des jenseitigen "großen Engels" - als solchen hat Else Lasker-Schüler ihre Mutter einmal beschrieben, als "großen Engel, der neben ihr ging".
Ihr findet vielleicht, das ist ein Widerspruch, weil ich ja vor kurzem erst geschrieben habe, ich spüre meine Mutter nicht. Und das stimmt auch: ich kann nicht sagen, ob sie es ist, ich kann es nicht zurodnen. Es ist nicht so, dass ich ihre "Qualität" wahrnehme (wenn Ihr wisst, was ich meine), es sind nicht "ihre" Worte, die mir durch den Kopf gehen, es ist nicht so, dass ich ihre Berührungen empfinde.
Aber ich fühle mich manchmal, als ginge ein großer Engel neben mir.
Vielleicht braucht er auch gar keinen Namen, vielleicht reicht es, dass ich ihn spüre.
"Von guten Mächten wunderbar geborgen..."dieses Lied haben wir im Herbst im Chor einstudiert. Ich habe Rudi beobachtet, wie er es voller Überzeugung gesungen hat. Oder war es einfach die Melodie, die ihm so gefällt, dass er so viel hineinlegt hat...?
Mir gefällt ja die andere Stelle fast noch besser: "Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar..."
Es ist schon paradox: diese Worte können so eine Zumutung sein, wenn man sie jemandem einfach hinwirft, als Anweisung (so sollst du dich fühlen, wenn man wirklich gläubig ist, fühlt man sich so).
Ich wäre die erste, die auf die Barrikaden ginge, wenn mir jemand damit käme. Was bildet sich der ein? Was weiß der von mir? Von meinem Leid und von meinen Nöten?
ich glaube, ich würde mir das von keinem Menschen sagen lassen, weil es so eine Zumutung wäre, so eine Zwangsbeglückung, so eine Überforderung. ich würde es als Frechheit empfinden: wer bist du, dass du mir sowas auf's Aug drücken willst, so einen frommen Schmus. Es kommt ja leider oft vor, dass es sich Leute leicht machen wollen, und dann mit frommen Sprüchen kommen...
Im Moment ist es aber so, dass diese Wort aus mir kommen. Natürlich, es sind Zitate von Dietrich Bonhoeffer - und von ihm kann ich diese Worte auch nehmen, ich weiß ja, in welcher Situation er sie geschrieben hat.
Aber das Gefühl, das er so meisterhaft in Worte fasst, das kommt aus mir. Und es kommt, ohne dass ich etwas dazu tue. Es ist einfach da.
Ich weiß nur, damals, als meine Mutter so krank war (und sie ist ja im Frühling gestorben, in dieser Zeit denke ich immer besonders an sie... ) damals habe ich diese guten Mächte nicht gefühlt, die behüten und trösten. Getröstet hatte mich ja immer sie - aber in ihrer Situation war sie dazu nicht in der Lage. Und so blieb ich ungetröstet und unbehütet.
Hoffentlich klingt das jetzt alles nicht sehr wirr... ich sitze mit Tränen in den Augen vor dem Computer, aber es sind gute Tränen. Tränen, die erleichtern. Nicht Tränen, die Kopfweh machen (das passiert mir leider öfters).