Ihr Lieben,
schon wieder sind etliche Tage vergangen, mein Cousin hat gerade heute wieder gesagt, wie unfassbar schnell die Zeit doch vergehe - für ihn viel zu schnell, so als laufe ihm das Leben davon, jetzt, wo er doch bald Siebzig werde und das Leben noch gerne lange genießen möchte.
Meine Standardantwort darauf, dass für mich seit Hannes Tod die Zeit total langsam vergeht und dass ich es im Gegensatz zu ihm kaum abwarten könne bis ich es hinter mir hätte, dieses Leben, das nicht mehr das Meine ist, die schockiert ihn schon gar nicht mehr.
Irgendwie glaubt er offensichtlich dass ich es nicht ernst meine, sondern nur so tue und eigentlich eh viel Freude am Leben hätte, weil ich ja dies und das tue, mit ihm und dem Hund spazieren gehe, mit ihm gemeinsam esse und auch sonst sehr gut aussähe.
Da hat er ja recht, nur die Beweggründe, warum ich tue, was immer ich auch tue, die missversteht er gründlich.
Ich mache das alles, um irgendwie die Zeit hinter mich zu bringen, um mich irgendwie über Wasser zu halten ohne komplett wahnsinnig zu werden.
Nichts von all meinen Aktivitäten mache ich deshalb, weil sie mir Spaß machen oder weil ich Freude daran hätte, sondern alles nur aus einer tiefen Verzweiflung heraus, mich ständig selbst beobachtend.
Es kommt mir ja selber alles so pathologisch vor und mir gehen die komischsten Gedanken durch den Kopf.
Ich habe z.B. überlegt, ob es was nützen würde wenn ich meine Erinnerung verlöre - meine kompletten Erinnerungen, die schönen und die schrecklichen, und neu beginnen könnte wie ein leeres Blatt Papier.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das überhaupt nichts nützen würde, denn die Gefühle und Emotionen wären immer noch da und dann wäre alles noch viel Schrecklicher, weil ich nicht mal wissen würde warum ich mich so schlecht fühle.
Da gibt es ja die Theorie, dass es einem im Leben gut geht, wenn man positiv denkt und all das Gute im Leben sieht und wertschätzt, während es einem schlecht geht, wenn man negativ denkt und in der Opferrolle verhaftet bleibt.
Für mich ist das eine substanzlose Theorie.
Ja gut, im Alltag kann es schon ganz nützlich sein, wenn man sich nicht dauernd über alles aufregt, aber diese grundsätzliche Gemütslage, in der ich mich befinde, die bleibt davon gänzlich unberührt.
Ein Beispiel:
Ich war diese Woche bei meiner Schamanin, die ich immer noch gerne alle ein, zwei Monate aufsuche und sie hat von mir Fremdenergien abgelöst, die ich mir offenbar aufgeladen hatte und siehe da, mir ging es tatsächlich besser und das hat bis über den nächsten Tag hinaus angehalten.
Aber jetzt kommt das große ABER:
Sie schafft es tatsächlich durch Energiearbeit, dass ich mich besser fühle, ohne dass es dafür eine konkrete äußere Ursache gibt und das ist ziemlich erstaunlich.
Allerdings ist dieses "Besser" von der Art, wie wenn man einen schmerzenden Zahn betäubt. Da tut dann auch nichts mehr weh, aber wenn man hinlangt fühlt sich alles taub an und man weiß, da ist nichts repariert, das ist nur eine vorübergehende Erleichterung.
Und genauso ist es auch mit dieser Energiebehandlung. Sie funktioniert jedes Mal, aber sie fühlt sich nicht echt an, denn sie geht an die Symptome, nicht an die Ursache.
Ich habe mir schon oft überlegt, ob ich mich als Opfer sehe und in meiner Trauer suhle, weil ich es gar nicht aushalte, dass es mir mal besser geht.
Aber ich glaube das ist es nicht.
Diese Gefühle der Einsamkeit, diese Sehnsucht, diese Leere, dieser Schmerz sind total echt und wenn sie betäubt werden, sei es durch Energiebehandlung, Gespräche oder auch Medikamente, fühlt man sie zwar nicht mehr, aber sie sind trotzdem da und sorgen dafür, dass man sich an nichts mehr freuen kann, keine Zukunftsvisionen mehr hat und keine Pläne schmiedet - kurz: Dass man keine Aufgaben mehr hat und keinen Sinn mehr im Leben sieht.
Nur macht einem das unter Drogeneinfluss, oder wenn man abgelenkt ist durch verschiedenen Maßnahmen nichts mehr aus.
Aber möchte ich so leben?
Die Antwort für mich ist ein klares Nein.
Vielleicht wäre es so, wenn ich auf irgendjemand Rücksicht nehmen müsste, der von mir abhängig ist, oder wenn ich täglich um meine Existenz kämpfen müsste. Da wäre es nur natürlich, dass man dafür sorgt, dass man in erster Linie funktioniert und diesen grausamen Schmerz erstmal irgendwie verdrängt.
Das trifft für mich aber nicht zu, ich habe hier alles erledigt und wann ich gehe ist meine Sache, ich bin für nichts und niemanden mehr verantwortlich außer für mich selber.
Für mich ist es momentan so, dass ich nicht glücklich sein kann, weil mich die Trauer noch fest im Griff hat, alles andere zu behaupten wäre gelogen.
Und alle Versuche meine Gefühle zu ignorieren, zu integrieren, zu hinterfragen sind sinn und ergebnislos
Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muss.
Wie lange das dauern wird und ob es einen Weg aus dieser Falle heraus gibt, da habe ich keine Ahnung.
Aber wenn ich mich unter Druck setze und mir wünsche glücklich zu sein, wird alles nur noch viel Schlimmer, denn dann kommen Schuldgefühle hinzu, weil ich mich als kompletter Versager fühle.
Weil es doch viele Menschen gibt, die am Leben hängen und gerne leben möchten, auch wenn sie viel mehr durchmachen haben müssen als ich.
Weil es doch nur daran liegt, wie man die Dinge betrachtet, ob man mit sich und dem Leben zufrieden ist.
Und dann frage ich mich, wieso klappt das bei mir nicht?
Bin ich selber schuld, dass es mir nicht gut geht?
Es gibt niemanden mehr auf dieser Welt, der mich so versteht, wie mein Hannes das getan hat, niemanden mehr, der mich aufrichtig lieb hat, mit dem ich reden und ihn dabei anfassen kann, dem ich ein gutes Essen koche und der mich dafür lobt und mich dabei so lieb anschaut, niemanden, der mit mir das Bett teilt und an dem ich mich in kalten Nächten wärmen kann, niemanden, der mit mir streitet und mich mit meiner Mutter vergleicht, niemanden, der mich nach dem Streit umarmt und küsst und für den ich die Allerbeste bin.
Bin ich in einer Opferhaltung und schwach, weil es mir nicht genügt mich selbst zu lieben, weil mir meine zweite Hälfte fehlt, weil ich ohne ihn nicht mehr leben möchte?
Ich weiß ja, dass er möchte, dass es mir gut geht und dass ich mein Leben genieße.
Aber ich schaffe es einfach nicht, obwohl ich mich so dafür anstrenge, obwohl ich alles versuche.
Bin ich selber schuld daran, dass ich nach zwei Jahren immer noch nicht in ein neues Leben gefunden habe?
Ich fürchte die Antwort ist ja, denn bei allem was ich versucht habe schwingt im Hintergrund immer mit ... ich will nicht mehr ... ich will nach Hause!