Weiter im Danach

  • Guten Abend,


    weiter im Danach. Ein eigentlich normaler und irgendwie doch anders-normaler Tag liegt hinter mir. Ich glaube, hoffe, wünsche, dass die seit dem Tod meines Vaters anhaltende Lethargie zumindest mal einen Schubs bekommen hat.


    Zur Vorgeschichte, quasi. Mein Mann hatte "sich" Freunde aus Frankreich eingeladen, die wir im vergangenen Jahr - anlässlich einer Trauerfeier... - kennen- und sehr mögen gelernt haben. Wir folgten im Juni einer Einladung nach Paris und vergangenes Wochenende stieg dann der von mir nicht gewollte Gegenbesuch. Er lag mir eine Mischung aus Basaltfindling und Blei im Magen. Ich selbst lasse nach 10 Betreuungs- und Pflegejahren nebst Fremdbewohnung unseres Hauses durch diverse Lebensgefährtinnen eines unserer Kinder nur noch wirklich ganz vertraute Menschen ein, weil ich zumindest vor mir selbst und meinem Mann offen zugebe, dass ich die Hausarbeit nicht mehr bewältigt bekomme. Es hat sich einfach viel angesammelt, dem ich oberflächlich sicher begegne, doch für gründlich reicht die Kraft nicht mehr - und ehrlich gesagt, seit einigen Monaten auch nicht mehr die Lust. Ich überblicke es nicht mehr. Aber egal. Das ist nicht das Thema.


    Der Besuch rückte an und die ganze Nummer war eine echte Herausforderung an meinen Selbstwert. Ich spreche wenig Französisch, mein Mann dafür fließend und so hatte ich nicht mal die Möglichkeit, im Vorfeld irgendetwas zu schreiben, zu kommunizieren, was mir das Ganze hier gemildert hätte. Also volle Fahrt auf Empfang... Donnerstag und Freitag legte ich einen atemberaubenden Küchenmarathon hin, säuberte und räumte noch die prekären Ecken und ließ es dann rollen. Stolz bin ich, dass mich meine alte Kochkreativität und -freude anscheinend doch nicht vollständig verlassen hat - ich kochte einfach, simpel und jahreszeitlich und am Ende fragt mich ein französischer Koch nach meinen Rezepten! Und das alles vegan-vegetarisch. Ist doch der Knüller, ne?!


    Wir quartierten die beiden ein, ich kochte, servierte, selbst für den Aperitif reichte es noch, trank doch etwas viel Alkohol - egal, ab und an ein Rausch von Sinnen darf sein... Anderntags waren wir von morgens bis nachts unterwegs - das Weinfest im Nachbardorf als krönender Schlusspunkt und ich hatte eine so unglaubliche Freude! Fotos von einer lauthals lachenden Hayat haben seit mehr als 50 Jahren Seltenheitswert. Sonntag wurde eine What'sApp-Gruppe gegründet und seither bin ich auf dem Sprachlerntrip. Ich habe mir eine hervorragende Übersetzungs-App aufs Handy geladen - die ist superb! Ich tippe in Deutsch ein, die App übersetzt und bietet die Möglichkeit, den Text in alle möglichen Nachrichtendienste einzupflegen, mit denen ich via Handy arbeiten kann. So kann ich nun eigentständig mit den Franzosen kommunizieren und das Tolle ist, dass alles in einer Historie aufgezeichnet wird, so dass ich by the way direkt lernen kann, was mir übersetzt wurde. Mein Mann bestätigte mir, dass die Nachrichten korrekt erscheinen, sogar mit meiner blumigen, humorigen und ozeanischen Schreibweise. Das Ende vom Lied? Niemanden hat wirklich interessiert, wie dreckig, sauber oder staubig es bei uns ist. Wir hatten Spaß, wir hatten Freude und FreuNde gewonnen. Weitere Treffen hüben wie drüben sind geplant.


    Heute war ich nachmittags noch hier und dort und überall mit dem Auto unterwegs. Am Ende ein Drogeriemarkt und Blumengießen am Elterngrab. Da der Weg dorther der kürzeste ist, fuhr ich an der Wohnung meiner Eltern vorbei und sah auch prompt einen ihrer Nachbarn draußen - irgendwas in mir ließ mich anhalten, wir klönten ein bisschen und "Hey, wollen Sie mal die Wohnung angucken, da wird kräftig gewühlt..." Ja, wollte ich. Schon beim Parken meines Autos sah ich das, was im Innen passiert war: Der Freisitz voller Bauschutt, ein Container voll alter Heizkörper, Badeinrichtung usw. usf. Als ich in die "Wohnung" oder in das Bauloch, das dort momentan existiert, trat, schlug mir der vertraute Muff- und Modergeruch entgegen, die Wohnung ist vollständig entkernt - einsam bammelt noch die nikotinverspakte Deckenlampe im ebenfalls entkernten Wohnzimmer vor sich hin.


    Was mich zutiefst anrührte, waren die Nachbarn meines Vaters. Das gesamte Anwesen mit seinen Bewohnern ist sehr, sehr verschroben. Die Menschen schräg bis zum Gehtnichtmehr und alle mit ihren speziellen Päckchen belastet und gleichzeitig unendlich liebenswert. Sie bilden eine kleine, tapfere und solidarische Hausgemeinschaft, die sich trotz aller kleinen Zänkereien doch am Ende gegenseitig stützt. Als sie mich auf dem Hof stehen sahen, kam noch das Ehepaar, das über meinem Vater wohnte, angetrippelt - die Begrüßung war so herzlich und freundlich! Als sie dann erzählten, dass sie meinen Vater doch vermissen würden und ein bisschen aus dem Nähkästchen mit ihm plauderten, glaubte ich es ihnen wirklich. Ja, mein schwieriger, kauziger, verbitterter und ebenfalls superschräger Vater passte genau dort hinein in diese bunte Truppe. Ich bekam sehr leckere Muskat-Weintrauben geschenkt, in die ich mich wirklich reinsetzen könnte und fühlte mich integriert in diese Gruppe von Menschen. Es war wie ein Nachhausekommen.


    Sicherlich vermisse ich es NICHT tagtäglich bei einem alten, verbitterten, sich nicht mehr richtig pflegenden Mann in eine verusselte, miefende Bude zu gehen und ich vermisse keinesfalls die sich wieder und wieder kreisenden, wiederholenden, wiedergekäuten Themen, um die sich sein Geist drehte und wickelte. Keine Sekunde vermisse ich da was - doch was mich heute friedlich und versöhnlich stimmt ist, dass er, der so oft und regelmäßig gegen einige seiner Mitbewohner lästerte und wetterte, bei ihnen integriert war, ob es ihm nun passte oder nicht. Sie schauten nach ihm, wenn ich abwesend war und hielten mich auch immer auf dem Laufenden. Die Herzenswärme, die sie für ihn tatsächlich empfanden, wurde mir leider erst heute bewusst.


    Bewegung in die Lethargie. Heute früh forderte ich mir ein Angebot für einen einwöchigen Bildungsurlaub in Paris an - uns stehen 5 Tage Freistellung pro Jahr zu und hurra, Sprachreisen werden ebenfalls gefördert! Die Sachbearbeiterin befindet sich leider im Urlaub, so muss ich noch zwei Wochen etwa abwarten, doch ich freue mich total! Unterkunft und Verpflegung bekomme ich bei unseren Neufreunden, die Fahrt dorthin wird per Bahn etwa 6 Stunden brauchen und ich habe wirklich prima Voraussetzungen, die Sprache via Crashkurs (30 Stunden in der Woche) zu lernen, zumindest mal die Grundlagen - ich fahre alleine und unsere Freunde sprechen außer "Donkeschööön" und "bitte" quasi null Deutsch.

    Nachmittags bin ich so zornig mit mir geworden, dass ich mich endlich dazu aufraffte, meinen Schreibtisch gründlich aufzuräumen, auszusortieren und Unnötiges zu entsorgen - und Ordnung zu schaffen. Mein seit Wochen vor sich hindümpelndes Großprojekt wurde heute sortiert, gesichtet, in einen Ordner geheftet und neu strukturiert. Da geht es morgen weiter und ein bisschen motiviert dazu bin ich auch wieder.


    Es ist alles mühsam, doch ich glaube, allmählich hält das Leben bei mir wieder Einzug.


    Danke fürs Zulesen,


    Hayat

  • Hayat,

    ich lese dich sehr gerne, du drückst so wundervoll aus, was ich auch manchmal fühle, aber nicht so in Worte fassen kann.


    Ich spüre beim Lesen förmlich, wie sich deine Lebenslust den Weg heraus ins Freie bahnt. Es klingt wahnsinnig spannend was du da vorhast!


    Alles Liebe!

    Vilja

  • Liebe Hayat,

    das ist ja so schön zu lesen - das Leben hält wieder Einzug.


    Ja, Freunde kümmert es nicht, ob es staubig ist oder das Chaos herrscht. Wie geht es dir damit, dass du den Haushalt nicht so schaffst - ist es dir ein Anliegen, einen geordneten und sauberen Haushalt zu haben oder kannst du ganz gut mit dem Chaos?

    Wenn dir das Chaos ein Dorn im Auge ist, hast du schon mal an eine Haushaltshilfe nachgedacht?

    Wenn du mit dem Zustand deines Haushaltes gut kannst, dann steh dazu, dass es halt so ist bei dir. Ich weiß, das ist schwer. Auch bei mir kann man nicht vom Fußboden essen - doch dafür haben wir einen Tisch. Und manchmal ist es so wie es ist und manchmal hadere ich damit. Froh bin ich immer wenn unsere Hilfe kommt, bügelt, saugt und wischt und auch noch Zeit für die Kinder hat. Das erleichtert vieles.


    Ich freu mich mit dir auf die Sprachreise. Das klingt super und dann brauchst du vielleicht die ÜbersetzungsApp nur noch für die ganz schweren Wörter.


    Ich freu mich überhaupt über das, was du da geschrieben hast. Es hat ein bisschen was von Leichtigkeit - von Lebenslust und Lebensfreude. Ich hoffe, du kannst dir die noch länger mitnehmen und von den Erinnerungen, mit den neuen französischen Freunden, zehren.


    Sei lieb gegrüßt

    Astrid.

  • Guten Abend und ein herzliches Danke für noch nicht kommentierte Rückmeldungen!


    Ich befinde mich gerade auf der Durchreise zum Geldverdienen und Staubwischen - so habe ich gedacht und irgendwie ist alles anders.


    Wir waren zwei Wochen in Dänemark und beendeten quasi den anlässlich des Todes meines Vaters abgebrochenen Urlaub an der Nordsee. Das Wetter war leider nicht mehr ganz so strahlend wie noch im Mai - doch die Tage waren wohl die seit Jahren interessantesten, die ich je in einem Urlaub verbracht habe.Vier Freundinnen, ein Ehemann und zwei Hündinnen waren auf große Abenteuerreise - unfreiwillig nach Innen - gegangen... Ich war zwei Wochen lang fluchtlos von den mir vertrautesten Menschen umgeben. Davon kenne ich zwei Personen eigentlich immer nur stundenweise, meine beste Freundin hatte ich im Haifischbecken einer Psychoklinik kennengelernt - das schweißt zusammen für drei Leben und meinen Mann kannte nur eine Freundin richtig. Was sich zutrug, war zu erwarten, teils heftig, teils anrührend, teils nahe an der Erträglichkeitsgrenze und gleichzeitig HEILSAM. Und: Ich fühle mich allen Beteiligten nun fast noch näher und verbundener als vorher.


    In der Therapie bröseln wir all die Ereignisse nun auf und allem voran bin ich gerade mit nicht gelebter Wut konfrontiert, die sich akut in bleierner Müdigkeit äußert. Darf die Wut an die frische Luft, bin ich auch gleich weniger müde.


    Spannend ist in dem Zusammenhang, dass ich seit dem Urlaub mehr fühle, egal was. Seien es Freude, Dankbarkeit, Zuneigung, Liebe - das kommt gerade ziemlich unkonventionell aus mir herausgeballert - und relativ unkontrolliert noch dazu. Gestern habe ich mich in eine Brillenfassung spontan verliebt - eigentlich brauche ich keine neue Brille, aber diese ist die erste in 51 Jahren, die mir auf Anhieb in sich und dann auch noch mir auf meiner eigenen Nase richtig, richtig gefällt und seit gestern bin ich dauerhipp. Ich bringe sie morgen zurück und dann werde ich mir mal ein Angebot machen lassen. Dieses exklusive Designerding kann ich mir sicherlich nicht mal eben aus der Portokasse leisten, aber mal sehen. Spätestens im Dezember gibt es dann eben das besondere Weihnachtsgeschenk von mir selbst an an meine kleine, süße Innenprofessorin.


    Freude angesichts der Fülle meiner Heimatregion. Seit wir aus dem kargen Dänemark zurück sind, bin ich erschlagen vor lauter Fülle und Erntedank bei diesem großartigen Wetter. Meine Vorräte an Walnüssen und Äpfeln sind reichlich und ich kreiere mit totaler Lust und Freude die abenteuerlichsten Dinge in Herd und Backofen.


    Und die beinahe größte Freude: Vielleicht habe ich einen neuen Gitarrenlehrer gefunden! Nach unseren Musiksessions im Urlaub war ich schon sehr geknickt, meinen seit 40 Jahren spielenden Freundinnen nicht mal ansatzweise nur die Fata Morgana eines Wassers reichen zu können. Neben der jahrelangen Routine kommt bei beiden einfach noch eine musikalische Begabung bis Hochbegabung hinzu. Das macht mich dann einfach furchtbar traurig. Ich spiele seit 4 Jahren und dafür ist es schon ganz okay - aber Zupfen und zwischendrin auch noch Melodie reinspielen - federleicht zu diversen Barreegriffen... Geht halt nicht. ABER es spornt mich auch an. So machte ich mich einen Abend lang intensiv auf die Suche und entdeckte tatsächlich wen, bei dem ich das Gefühl habe, dass es passen könnte. Ein paar Mails gingen hin und her, heute machten wir einen Termin zur Probestunde und allein die Rückmeldung zu dem, was ich wirklich nur sehr knapp vom Zerwürfnis mit meinem früheren Lehrer berichtete, tat unendlich gut. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich dieser Mensch einfach total kindisch und arschig verhalten haben könnte! Und das nicht nur beim Streit, sondern eigentlich fast vier Jahre lang, wenn ich zurückdenke... Hayat MUSS anscheinend leiden, um zu verstehen...


    Soweit dieses Update. Noch eine Woche und dann gehts ab in die Lüneburger Heide und die große Bärenstadt!


    Herzgrüße von

    Hayat

  • Liebe Hayat,

    da war und ist ja viel los. Ja Wut macht müde, wenn sie geschluckt wird und gibt Energie, wenn sie raus darf.


    Wünsche dir viel Freude bei der Probestunde.


    Lg. Astrid.

  • Ja, liebe Astrid , dem stimme ich voll und ganz zu. Blockierte Wut macht müde und schlägt auf den Rücken. Gerade ist Stehen ähnlich unangenehm wie Sitzen. Der Ärger türmt sich familiär und beruflich und bei beiden sind die Situationen so, dass geäußerte Wut fatal sein könnte. Was mir hilft, ist das, was mich ärgert , zu benennen und aus meinem Hirn zu entlassen und in praktisches Tun zu kanalisieren. Eine Woche noch...


    Hayat

  • Eine Woche noch.... und dann?


    Vielleicht hast du auch die Möglichkeit, weit ab von Familie und Beruf deine Wut zu entladen? Vielleicht ein Schrei in einem Wald, einen Wutzettel an die Wand schmeißen, einen Ball irgendwo hin pfeffern, ....


    benennen und aus dem Hirn entlassen, funktioniert das bei dir wirklich, wenn du wütend bist? Bei mir geht das nur, wenn ich die Wut im Anflug spüre.


    Auf jeden Fall freue ich mich, dass du achtsam mit dir bist.


    Sei lieb gegrüßt

    Astrid.

  • dann geht es auf Reisen und soeben habe ich mich in einem Akt der Selbstfürsorge wegen Rückenschmerzen auf den Heimweg gemacht. Ich habe mich gefragt , welchen Sinn das macht, Schmerzmittel zu nehmen , mich zu quälen und gleichzeitig doch zu wissen , dass es der Schmerz ist, der bei mäßiger und dauernder Bewegung mit vielen Positionswechseln meist verschwindet .Diesmal ist es vielleicht etwas mehr, doch jetzt bin ich zu Hause und werde hier ein bisschen entspannen in der Bewegung...


    Danke fürs Teilen und Rückmelden!


    Hayat