Guten Morgen, liebe Lilifee!
Ich hoffe, dein Essen ist gelungen. Allein zu essen oder auch nur für sich selbst zu kochen, ist für mich eine der Herausforderungen, die ich noch stemmen muss. Zu viele schöne Erinnerungen hängen an diesem essentiellen „Ritual“, weshalb ich es neu gestalten muss, um nicht dauernd getriggert zu werden….
Ich bin jetzt aber erschüttert ohne Ende über Deinen Bericht. Was für Abgründe. Ich weiß natürlich nicht wie Dein Partner bis zu eurem Kennenlernen gelebt hat, aber entweder hat er in seinem Leben nicht sehr viel Liebe und Fürsorge erlebt. Oder er war ein Mensch dem es schwergefallen ist diese anzunehmen. So etwas gibt es ja. Da spielt dann sicher auch hinein wie man durch Kindheit, Elternhaus, Umgebung und spätere Lebenserfahrungen geprägt wurde. Ich kann aber sehr gut verstehen daß es ihn Überwindung gekostet hat seine Füße von Dir versorgen zu lassen. Das wäre mir auch so gegangen, denn ich bin ein Mensch der gerne gibt, dem es aber manchmal peinlich ist zu nehmen. Nur bei Andreas war das anders.
Ja, Abgründe… das trifft es wohl.
Ich weiß nur aus einzelnen kurzen Sätzen, wie sein Leben war, bevor wir uns kennen gelernt haben. Ich weiß aber, dass er auf Vieles nicht stolz war und daher wenig erzählt hat. Immer wieder Thema waren seine Eltern, die er hoch geschätzt hat. Um so schlimmer muss es gewesen sein, dass seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war. Eine Zeitlang kümmerte sich seine Großmutter um ihn und seinen Bruder, doch der Vater fand schnell eine neue Frau, die für die Kinder eine Stiefmutter, wie aus dem Märchen war: böse und brutal. Ich weiß nicht, ob das wirklich so war oder ob sein kleines, trauerndes Kinderherz die Stiefmutter aus Liebe zu seiner Mutter nicht anders in die Erinnerung schreiben konnte, jedenfalls erzählte er nichts Gutes von ihr.
Für seinen Vater hatte er nur Worte größten Respekts, Wertschätzung und Dankbarkeit… ob da auch Liebe war, weiß ich nicht.
Sein Leben als Erwachsener war turbulent und wie jedes Leben von Höhen und Tiefen geprägt. Eines aber war ganz deutlich: die Arbeit stand im Vordergrund. Es findet sich darin keine dauerhafte Beziehung, außer auf geschäftlicher Basis. Ich glaube, er hatte seine schwer auszuhaltenden narzisstischen Züge seiner Kindheit zu verdanken - und die machten es ihm unmöglich, sich dauerhaft zu binden. Er betonte oft, er hätte gerne ein idyllisches Familienleben gehabt…
Sich auf ihn einzulassen, fühlte sich manchmal an, als würde ich einen streunenden Hund aufnehmen, der nicht aufgenommen werden wollte. Einerseits gab ich ihm, was er behauptete, haben zu wollen, andererseits musste ich immer damit rechnen „gebissen“ zu werden.
Was er aber für mich tat, war für mich purer Luxus, sowohl im materiellen wie auch im emotionalen Sinne. Ich musste nie um irgendetwas bitten, wenn ich seine Hilfe brauchte. Er sah von sich aus, wo etwas klemmt und hat dafür gesorgt, alles in Ordnung zu bringen. Er hat sich mir von Anfang an an die Seite gestellt, hat Verantwortung mit übernommen und Lösungen gesucht und vorgeschlagen, ohne mir das Gefühl zu geben, dass ich „ausgebootet“, abgedrängt werde. Für meine Belange, sei es beim Haus, bei den Kindern, beim Auto… was auch immer, war die Gemeinsamkeit, das Teilen, die Unterstützung unschlagbar. Nach vielen Jahren, in denen ich das Leben mit all seinen Belangen allein gestemmt hatte, war da plötzlich jemand, der in dieses Abenteuer miteinsteigt. Jemand, der mich hier nicht herausreißen wollte, weil es nicht „sein Werk“ war. Jemand, der meine Leistung geschätzt hat, der den ideellen Wert eines „Lebenswerks“ erkannt und geschätzt hat - obwohl es nicht Seins war.
Er hat mich auf Händen getragen… diesen Mann an meiner Seite zu wissen, gab mir Kraft und Mut. Er war Licht, Farben und Wärme.
Doch wehe, es ging um seine Belange… still sein, zuhören… musste ich auch erst lernen… so war das Leben mit ihm…
Vom Defi wusste ich. Den sieht man ja unter der Haut, er zeichnet sich deutlich ab. Ich wusste nicht, dass er damit ein Problem hatte. All die Dinge, die man rund um so ein Implantat auch als Angehöriger wissen sollte, wusste ich nicht. Ja, ich wusste nicht einmal, dass man als Angehöriger irgendetwas spezielles wissen sollte, also habe ich auch nicht danach gefragt. Er ging nach außen hin so locker damit um, dass ich keinen Anlass zur Sorge sah…
Um eine deiner Fragen zu beantworten: einer der Notfallmediziner, mit denen ich nach seinem Tod gesprochen habe, sagte mir unverblümt: solche Patienten kann man nicht wiederbeleben. Bei aller Kunst und mit noch so viel Erfahrung als Notarzt würde eine Wiederbelebung in so einem Fall nicht funktionieren. Das wisse er aus vielen leidvollen Erfahrungen….
An den Spuren in seiner Wohnung war zu erkennen, dass er tagelang vorher schon erhebliche, körperliche Probleme gehabt haben muss. Er hatte zehn Tage vor seinem Tod das letzte Mal die Wohnung verlassen. 5 Tage vor seinem Tod hatte er Besuch. Sein Besucher drängte ihn, ins Krankenhaus zu gehen, denn er würde nicht gut aussehen… er verweigerte.
Das beantwortet eine weitere deiner Fragen: er wäre nicht bei mir Zuhause gestorben. Ich hätte ihn unter allen Umständen ins Krankenhaus bringen lassen. Er wäre trotzdem gestorben… vielleicht nicht so quälend… es war seine Entscheidung. Ich kann nichts ändern.
Es ist schön, dass du mit Andreas einen so liebevollen Mann gefunden hast. Und um so tragischer, ihn dann beerdigen zu müssen. Einen Menschen, der so gut zu einem passt und der uns eigentlich vom ersten Augenblick an so nahe ist, findet man sehr selten. Manche finden ihn nie…
Ich werde nun auch versuchen, etwas zu finden… nämlich die Motivation, um diesen Tag sinnvoll zu gestalten
Alles Liebe,
Puzzle