Liebe Leyla,
herzlich willkommen bei uns und mein herzliches Beileid zum Tod deiner Mutter! Meine Vorschreiberinnen haben dir schon so viele Dinge gesagt, die wichtig und für deine Situation auch richtig sind, ich kann alles nur doppelt unterstreichen.
Was noch mit einem
Rufezeichen verstärken möchte, ist: Pass auf dich auf!
Eine Familie ist ein "System" und jedes Familiensystem hat sich im Laufe der Jahre durch Rollenverteilung ein ganz individuelles Gleichgewicht geschaffen, damit das System zusammenhält und nicht kippt. Wenn ein Familienmitglied stirbt, dann wird dieses Gleichgewicht gestört und nun versuchen die verbleibenden Mitglieder wieder ein Gleichgewicht herzustellen, damit das System nicht kippen oder auseinanderbrechen kann. Um das Gleichgewicht zu halten, werden die Rollen und Kräfte auf die verbleibenden Mitglieder verteilt. Oft ist es so, dass die Kräfte nicht gleichmäßig verteilt werden, sondern dass sich ein Starker und mehrere Schwächere herausbilden. Der Starke ist der Tröster, der Starke muss am meisten Kraft aufwenden. Am Anfang klappt das, denn die Schwachen werden entlastet (dürfen trauern) und der Starke fühlt sich durch sein Starksein "gut". Das heißt oft auch, dass er durch seine Stärke seine eigene Trauer hintanstellt, was er als recht angenehm erlebt. Irgendwann rächt sich das aber. Denn auch ein starker Mensch muss sich manchmal ausruhen und auch ein starker Mensch muss seine Trauer zum Ausdruck bringen.
Starke klappen nach einiger Zeit unter ihrer Last zusammen und Trauer kommt verzögert daher.
Du bist derzeit "die Starke" in der Familie.Du, dein Vater und dein Bruder müsst euch die Arbeiten jetzt gerecht verteilen, das ist ganz wichtig. Wenn auch dein Vater und dein Bruder jeweils fixe Tätigkeiten im Haushalt verrichten, dann überlastest du sie damit nicht, im Gegenteil: Sie haben etwas wichtiges zu tun und somit bekommen sie auch Struktur. Struktur gibt Sicherheit und Halt.
Nimm dir nicht zu viel vor: Schau, dass du den Schulabschluss schaffst, rede unbedingt mit deinen Lehrern, das ist wichtig - nicht nur für dich, sondern auch für die Lehrer - die kennen sich ja auch nicht aus, sind unsicher. Sag ihnen, was für dich hilfreich wäre. Dass du Logopädie studieren willst, ist super, überlege dir aber, ob ein Umzug in eine fremde Stadt dieses Jahr noch gut für dich ist. Es kann sein, dass es genau das ist, was du brauchst, um dein Leben neu zu orientieren. Es kann aber auch sein, dass es heuer noch zu früh dafür ist, weil es zu nahe am Tod deiner Mutter ist und eine zusätzliche Entwurzelung bedeutet. Du "verlässt" ja nicht nur den Wohnort, sondern auch deine Familie und den Freundeskreis.
Also: Keine überstürzten Handlungen, lass dir Zeit und pass auf dich auf! Du kannst auch noch ein Jahr "Pause" einlegen, in dem du jobst und dich ein bissl erholst. Das ist dann sicher kein verlorenes Jahr! In deinem Alter gibt es keine verlorenen Jahre!
sagt die gute alte
Christine