Danke schön, Karin und Petra.
Januar 2018. Ein weiteres MRT zeigte keine Kontrastmittelaufnahme. Alles war gut, die Blutwerte waren in Ordnung. Methadon nahm sie weiter, ebenfalls Keppra und Magenschutz. Der Neurologe erteilte die Freigabe zum Autofahren, aber sie traute sich kaum. In diesem Jahr bat ich sie ab und zu, zu fahren, wenn wir gemeinsame Ausflüge machten.
Da meine Mutter bereits seit 1,5 Jahren im Pflegeheim lebte, beschlossen mein Bruder und ich, unser viel zu großes Elternhaus zu verkaufen. Ein Käufer war schnell gefunden, aber das Ausräumen dieses großen Hauses war emotional sehr anstrengend. Die Leben mehrerer Menschen wurden ausgeräumt.
Hatte ich mir die zwei Jahre zuvor nicht länger als zwei Wochen vorausgeplant, begann ich, wieder langfristige Pläne zu schmieden. Ich dachte mit Silvia darüber nach, zu bauen oder ein Haus bzw. eine Wohnung zu kaufen.
Auf der anderen Seite vermute ich heute, dass ich bereits eine Vorahnung hatte. Ich nahm mir zwar immer noch meine Freiräume, versuchte aber auch, Silvia jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch zu erfüllen. Sie selbst lebte früher als alleinerziehende Mutter extrem sparsam und gönnte sich nie etwas. Wir gingen nun mehrmals in der Woche zum Essen und wenn ihr beim Einkaufen etwas gefiel, kaufte ich es kurzerhand und erfreute mich an ihrer Freude.
Februar - März 2018. Alles war gut, allerdings baute Silvia körperlich etwas ab. Unsere kleinen Wanderungen wurden immer kürzer, Steigungen fielen ihr schwer. Die Termine bei der Logopädin zeigten keine Erfolge, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet.
April 2018. In der Woche nach Ostern starb meine Mutter im Alter von 89 Jahren im Pflegeheim, sie kippte beim Mittagessen um und war tot. Ich hatte nie das allzubeste Verhältnis zu meiner Mutter und besuchte sie auch mehr aus Pflichtgefühl jede Woche im Pflegeheim. Als ich ihr zwei Jahre zuvor von Silvias Erkrankung erzählte, riet sie mir, mich von Silvia zu trennen - was mich sehr entsetzte. Ich war schon etwas traurig, konnte diese Trauer aber gut und schnell verarbeiten. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal über meine Kindheitserinnerungen...
Mai 2018. Ein weiteres MRT zeigte keine Auffälligkeiten. Seit März war es ein traumhafter Frühling. Wir unternahmen an den Wochenenden viele gemeinsame Ausflüge. Silvia hatte mittlerweile einen Nebenjob, sie trug Prospekte aus, um etwas dazuzuverdienen. So kam sie an die frische Luft und blieb in Bewegung.
Juni 2018. Da ich aufgrund Silvias Erkrankung meinen 50. Geburtstag im Jahr zuvor nicht gefeiert hatte, holte ich das mit einem Sommerfest nach. Es war ein toller Abend mit vielen Freunden. Silvias Krankheit war weit, weit weg.
Juli 2018. Ich war mit unserem Bouleclub fünf Tage im Bregenzerwald auf der Hütte, wie jedes Jahr. Silvia wollte nicht mit, da es ihr auf der Hütte zu eng war.
August 2018. Anfang des Monats war wieder MRT. Keine Auffälligkeiten. Der nächste Termin sollte am 4. Dezember sein. Ich rechnete nach. Erst in vier Monaten? Der normale Turnus liegt bei drei Monaten. Aber da Silvia jedes Mal furchtbare Platzangst hat, freute ich mich für sie. Heute halte ich mir vor, nicht auf dem dreimonatigen Rhythmus bestanden zu haben, wer weiß, vielleicht hätte man noch etwas ändern können...
Das war die Freigabe für den Urlaub. Ich suchte uns La Palma als Urlaubsziel heraus, da Silvia gerne noch ans Meer wollte und dort auch im Sommer ein gemäßigtes Klima herrscht. Aber Silvia wollte nicht, sie traute sich den Flug nicht zu, sie wollte lieber wieder nach Österreich, dahin, wo wir bereits vor zwei Jahren waren. Heute denke ich, dass ihr etwas vertrautes lieber war. Also buchte ich in dem Hotel, in welchem wir bereits zwei Jahre zuvor waren ein Zimmer für eine Woche. Dass es unser letzter gemeinsamer Urlaub wurde, ahnte ich damals vermutlich unterbewusst. Ich beschloss, in diesem Urlaub nur Dinge zu unternehmen, welche ihr große Freude bereiten (bis auf einen Tag, an dem ich einen Gipfel bestieg) und tat Dinge, welche ich alleine nie getan hätte. Wir besuchten neben gemeinsamen kleinen Wanderungen Schloss Linderhof und Schloss Neuschwanstein, wanderten durch die Partnachklamm. Für mich die Hölle, hasse ich doch diese unglaublichen Touristenströme und mag einfach keine Menschenmassen. Aber es war so schön, den Glanz in Silvias Augen, ihre Freude mitzuerleben. Es war ein wunderschöner Urlaub.
Eine halbe Woche nach unserem gemeinsamen Urlaub fuhr ich dann noch alleine für sechs Tage nach Slowenien und machte ausgiebige Wanderungen in den julischen Alpen. Ich schickte ihr täglich viele Fotos und sie freute sich sehr für mich.
September - Oktober 2018. Alles war gut. Wir konnten das Leben genießen.
November 2018. Mitte des Monats bemerkte ich Veränderungen an Silvia. Wenn sie mir eine Nachricht schickte, waren viele Schreibfehler darin. Sie versuchte dann, das zu verbergen, indem sie mir Sprachnachrichten schickte. Ihren Töchtern fiel das ebenfalls auf. Zusätzlich entwickelte sie Tics. Sie zeigte mit dem Finger auf den Fernseher und ich stellte fest, dass sie den Filmen nicht mehr folgen konnte. Ab diesem Zeitpunkt liefen dann eher Kinderfilme im Fernsehen. Sie wurde auch merklich müder und schlief sehr viel. Aber in wenigen Tagen sollte ja das nächste MRT sein. Und vielleicht liegt es ja nur an der dunklen Jahreszeit. Und vielleicht ist es ja "nur" ein Ödem. Vielleicht war es aber auch Verdrängung?
Hätte ich mich um ein früheres MRT bemühen sollen? Ein Vorwurf. den ich mir für den Rest meines Lebens machen werde.
Ende November starb ein Freund von mir an Krebs. Schnell und unerwartet. Es war ein schlimmer Monat.
Dezember 2018. Am 4. des Monats war MRT und die schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Der Tumor war wieder da, drückte bereits auf den Balken und war 8 cm groß. Zusätzlich eine Schwellung. Sie bekam sofort eine Infusion Cortison und musste ab diesem Zeitpunkt hochdosiert Cortison nehmen.
Am 11. Dezember hatten wir Termin im Uniklinikum Tübingen. Der Neurochirug wunderte sich, dass Silvia so wenige Ausfälle hatte. Eine Operation sei nicht möglich, für eine Bestrahlung sei der Tumor zu groß, er empfehle die Chemotherapie mit Temodal. Auf meine Frage, weshalb Temodal, welches ja drei Jahre zuvor nichts genützt hatte und nicht wieder CCNU, welches ja nachweislich etwas gebracht hatte, meinte er, dass Silvias Blutwerte unter CCNU immer zu stark gesunken seien und sie im Frühjahr 2016 vermutlich doch kein Rezidiv, sondern einen Pseudoprogress hatte. Originalton: "Sie werden sehen, wie schnell sich der Zustand ihrer Frau jetzt verbessern wird." So ein Arschloch. Sorry für den rüden Ton. Klar, ein Pseudoprogress, welcher über ein Jahr braucht, um zu verschwinden. Wollte der mich verarschen? Silvia folgte dem Gespräch völlig unbeteiligt.
Am nächsten Tag fuhren wir in die Onkologie in unserem Kreiskrankenhaus. Ich war fest entschlossen, eine Weiterbehandlung mit CCNU durchzusetzen. Leider war unsere Onkologin im Urlaub und ihre Vertretung handelte strikt nach den Empfehlungen aus Tübingen. Das war das Todesurteil.
Silvias Zustand verschlechterte sich zusehends. Sie verlor ihre Mützen und ihre Schals, meistens beim einsteigen ins Auto. Beim Essen hatte sie mehr Essen neben als auf dem Teller. Ich vermutete bereits ein eingeschränktes Sichtfeld, kontrollierte das auch und konnte nichts feststellen. Aber sie klagte dann auch darüber, schlechter zu sehen. Das Messer hielt sie oft verkehrt herum.
Eines Nachts wachte ich auf, weil sie im Schlafzimmer im Dunkeln stand und schrie. Sie stand immer im Dunkeln auf, wenn sie nachts raus musste, um mich nicht zu wecken, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass sie ruhig Licht machen könne. So stand sie jetzt im Dunkeln und wusste nicht mehr weiter. Ich schenkte ihr darauf hin eine kleine Taschenlampe, welche sie auf den Nachttisch legen konnte. Hätte ich das mal lieber nicht gemacht, die Taschenlampen sollten mir noch viel Kummer bereiten...
Über Weihnachten sah ich dann einen kleinen Lichtstrahl am Horizont. Sie schaufelte sich das Essen nicht mehr vom Teller und es schien eine kleine Verbesserung einzutreten. Wir machten über die Feiertage zwei kleine Spaziergänge. Es glomm wieder Hoffnung auf.
Zwischen Weihnachten und Silvester verschlechter sich ihr Zustand dann aber wieder schleichend. Sie war jetzt die ganze Zeit bei mir und ich musste jetzt die Medikamenteneinnahme überwachen. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Sie schlief jetzt 16 Stunden am Tag.
Am Silvesternachmittag ging ich mit Freunden paschen (Neujahrsringe auswürfeln) und war ein paar Stunden außer Haus, da man sie zu der Zeit noch für kurze Zeit alleine lassen konnte. Sie schickte dann alsbald drei Textnachrichten:
"Wom lokommst du du"
"Wann muss ich Tabletten nehmen???"
"Wo Blei di"
Es sollten ihre letzten drei Nachrichten an mich sein. Ich fuhr sofort nach Hause. Am Abend gab es dann Raclette und sie blieb sogar bis Mitternacht wach.
"Frohes neues Jahr mein Engel und dass Du bald wieder gesund wirst."
Liebe Grüße
Josh