Beiträge von Josh

    Danke schön, Karin und Petra.


    Januar 2018. Ein weiteres MRT zeigte keine Kontrastmittelaufnahme. Alles war gut, die Blutwerte waren in Ordnung. Methadon nahm sie weiter, ebenfalls Keppra und Magenschutz. Der Neurologe erteilte die Freigabe zum Autofahren, aber sie traute sich kaum. In diesem Jahr bat ich sie ab und zu, zu fahren, wenn wir gemeinsame Ausflüge machten.


    Da meine Mutter bereits seit 1,5 Jahren im Pflegeheim lebte, beschlossen mein Bruder und ich, unser viel zu großes Elternhaus zu verkaufen. Ein Käufer war schnell gefunden, aber das Ausräumen dieses großen Hauses war emotional sehr anstrengend. Die Leben mehrerer Menschen wurden ausgeräumt.


    Hatte ich mir die zwei Jahre zuvor nicht länger als zwei Wochen vorausgeplant, begann ich, wieder langfristige Pläne zu schmieden. Ich dachte mit Silvia darüber nach, zu bauen oder ein Haus bzw. eine Wohnung zu kaufen.


    Auf der anderen Seite vermute ich heute, dass ich bereits eine Vorahnung hatte. Ich nahm mir zwar immer noch meine Freiräume, versuchte aber auch, Silvia jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch zu erfüllen. Sie selbst lebte früher als alleinerziehende Mutter extrem sparsam und gönnte sich nie etwas. Wir gingen nun mehrmals in der Woche zum Essen und wenn ihr beim Einkaufen etwas gefiel, kaufte ich es kurzerhand und erfreute mich an ihrer Freude.


    Februar - März 2018. Alles war gut, allerdings baute Silvia körperlich etwas ab. Unsere kleinen Wanderungen wurden immer kürzer, Steigungen fielen ihr schwer. Die Termine bei der Logopädin zeigten keine Erfolge, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet.


    April 2018. In der Woche nach Ostern starb meine Mutter im Alter von 89 Jahren im Pflegeheim, sie kippte beim Mittagessen um und war tot. Ich hatte nie das allzubeste Verhältnis zu meiner Mutter und besuchte sie auch mehr aus Pflichtgefühl jede Woche im Pflegeheim. Als ich ihr zwei Jahre zuvor von Silvias Erkrankung erzählte, riet sie mir, mich von Silvia zu trennen - was mich sehr entsetzte. Ich war schon etwas traurig, konnte diese Trauer aber gut und schnell verarbeiten. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal über meine Kindheitserinnerungen...


    Mai 2018. Ein weiteres MRT zeigte keine Auffälligkeiten. Seit März war es ein traumhafter Frühling. Wir unternahmen an den Wochenenden viele gemeinsame Ausflüge. Silvia hatte mittlerweile einen Nebenjob, sie trug Prospekte aus, um etwas dazuzuverdienen. So kam sie an die frische Luft und blieb in Bewegung.


    Juni 2018. Da ich aufgrund Silvias Erkrankung meinen 50. Geburtstag im Jahr zuvor nicht gefeiert hatte, holte ich das mit einem Sommerfest nach. Es war ein toller Abend mit vielen Freunden. Silvias Krankheit war weit, weit weg.


    Juli 2018. Ich war mit unserem Bouleclub fünf Tage im Bregenzerwald auf der Hütte, wie jedes Jahr. Silvia wollte nicht mit, da es ihr auf der Hütte zu eng war.


    August 2018. Anfang des Monats war wieder MRT. Keine Auffälligkeiten. Der nächste Termin sollte am 4. Dezember sein. Ich rechnete nach. Erst in vier Monaten? Der normale Turnus liegt bei drei Monaten. Aber da Silvia jedes Mal furchtbare Platzangst hat, freute ich mich für sie. Heute halte ich mir vor, nicht auf dem dreimonatigen Rhythmus bestanden zu haben, wer weiß, vielleicht hätte man noch etwas ändern können...


    Das war die Freigabe für den Urlaub. Ich suchte uns La Palma als Urlaubsziel heraus, da Silvia gerne noch ans Meer wollte und dort auch im Sommer ein gemäßigtes Klima herrscht. Aber Silvia wollte nicht, sie traute sich den Flug nicht zu, sie wollte lieber wieder nach Österreich, dahin, wo wir bereits vor zwei Jahren waren. Heute denke ich, dass ihr etwas vertrautes lieber war. Also buchte ich in dem Hotel, in welchem wir bereits zwei Jahre zuvor waren ein Zimmer für eine Woche. Dass es unser letzter gemeinsamer Urlaub wurde, ahnte ich damals vermutlich unterbewusst. Ich beschloss, in diesem Urlaub nur Dinge zu unternehmen, welche ihr große Freude bereiten (bis auf einen Tag, an dem ich einen Gipfel bestieg) und tat Dinge, welche ich alleine nie getan hätte. Wir besuchten neben gemeinsamen kleinen Wanderungen Schloss Linderhof und Schloss Neuschwanstein, wanderten durch die Partnachklamm. Für mich die Hölle, hasse ich doch diese unglaublichen Touristenströme und mag einfach keine Menschenmassen. Aber es war so schön, den Glanz in Silvias Augen, ihre Freude mitzuerleben. Es war ein wunderschöner Urlaub.


    Eine halbe Woche nach unserem gemeinsamen Urlaub fuhr ich dann noch alleine für sechs Tage nach Slowenien und machte ausgiebige Wanderungen in den julischen Alpen. Ich schickte ihr täglich viele Fotos und sie freute sich sehr für mich.


    September - Oktober 2018. Alles war gut. Wir konnten das Leben genießen.


    November 2018. Mitte des Monats bemerkte ich Veränderungen an Silvia. Wenn sie mir eine Nachricht schickte, waren viele Schreibfehler darin. Sie versuchte dann, das zu verbergen, indem sie mir Sprachnachrichten schickte. Ihren Töchtern fiel das ebenfalls auf. Zusätzlich entwickelte sie Tics. Sie zeigte mit dem Finger auf den Fernseher und ich stellte fest, dass sie den Filmen nicht mehr folgen konnte. Ab diesem Zeitpunkt liefen dann eher Kinderfilme im Fernsehen. Sie wurde auch merklich müder und schlief sehr viel. Aber in wenigen Tagen sollte ja das nächste MRT sein. Und vielleicht liegt es ja nur an der dunklen Jahreszeit. Und vielleicht ist es ja "nur" ein Ödem. Vielleicht war es aber auch Verdrängung?


    Hätte ich mich um ein früheres MRT bemühen sollen? Ein Vorwurf. den ich mir für den Rest meines Lebens machen werde.


    Ende November starb ein Freund von mir an Krebs. Schnell und unerwartet. Es war ein schlimmer Monat.


    Dezember 2018. Am 4. des Monats war MRT und die schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Der Tumor war wieder da, drückte bereits auf den Balken und war 8 cm groß. Zusätzlich eine Schwellung. Sie bekam sofort eine Infusion Cortison und musste ab diesem Zeitpunkt hochdosiert Cortison nehmen.


    Am 11. Dezember hatten wir Termin im Uniklinikum Tübingen. Der Neurochirug wunderte sich, dass Silvia so wenige Ausfälle hatte. Eine Operation sei nicht möglich, für eine Bestrahlung sei der Tumor zu groß, er empfehle die Chemotherapie mit Temodal. Auf meine Frage, weshalb Temodal, welches ja drei Jahre zuvor nichts genützt hatte und nicht wieder CCNU, welches ja nachweislich etwas gebracht hatte, meinte er, dass Silvias Blutwerte unter CCNU immer zu stark gesunken seien und sie im Frühjahr 2016 vermutlich doch kein Rezidiv, sondern einen Pseudoprogress hatte. Originalton: "Sie werden sehen, wie schnell sich der Zustand ihrer Frau jetzt verbessern wird." So ein Arschloch. Sorry für den rüden Ton. Klar, ein Pseudoprogress, welcher über ein Jahr braucht, um zu verschwinden. Wollte der mich verarschen? Silvia folgte dem Gespräch völlig unbeteiligt.


    Am nächsten Tag fuhren wir in die Onkologie in unserem Kreiskrankenhaus. Ich war fest entschlossen, eine Weiterbehandlung mit CCNU durchzusetzen. Leider war unsere Onkologin im Urlaub und ihre Vertretung handelte strikt nach den Empfehlungen aus Tübingen. Das war das Todesurteil.


    Silvias Zustand verschlechterte sich zusehends. Sie verlor ihre Mützen und ihre Schals, meistens beim einsteigen ins Auto. Beim Essen hatte sie mehr Essen neben als auf dem Teller. Ich vermutete bereits ein eingeschränktes Sichtfeld, kontrollierte das auch und konnte nichts feststellen. Aber sie klagte dann auch darüber, schlechter zu sehen. Das Messer hielt sie oft verkehrt herum.


    Eines Nachts wachte ich auf, weil sie im Schlafzimmer im Dunkeln stand und schrie. Sie stand immer im Dunkeln auf, wenn sie nachts raus musste, um mich nicht zu wecken, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass sie ruhig Licht machen könne. So stand sie jetzt im Dunkeln und wusste nicht mehr weiter. Ich schenkte ihr darauf hin eine kleine Taschenlampe, welche sie auf den Nachttisch legen konnte. Hätte ich das mal lieber nicht gemacht, die Taschenlampen sollten mir noch viel Kummer bereiten...


    Über Weihnachten sah ich dann einen kleinen Lichtstrahl am Horizont. Sie schaufelte sich das Essen nicht mehr vom Teller und es schien eine kleine Verbesserung einzutreten. Wir machten über die Feiertage zwei kleine Spaziergänge. Es glomm wieder Hoffnung auf.


    Zwischen Weihnachten und Silvester verschlechter sich ihr Zustand dann aber wieder schleichend. Sie war jetzt die ganze Zeit bei mir und ich musste jetzt die Medikamenteneinnahme überwachen. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Sie schlief jetzt 16 Stunden am Tag.


    Am Silvesternachmittag ging ich mit Freunden paschen (Neujahrsringe auswürfeln) und war ein paar Stunden außer Haus, da man sie zu der Zeit noch für kurze Zeit alleine lassen konnte. Sie schickte dann alsbald drei Textnachrichten:

    "Wom lokommst du du"

    "Wann muss ich Tabletten nehmen???"

    "Wo Blei di"

    Es sollten ihre letzten drei Nachrichten an mich sein. Ich fuhr sofort nach Hause. Am Abend gab es dann Raclette und sie blieb sogar bis Mitternacht wach.


    "Frohes neues Jahr mein Engel und dass Du bald wieder gesund wirst."


    Liebe Grüße

    Josh

    Karin, Josef, Petra, Mowi, ich danke euch.


    Als ich heute morgen zur Arbeit fuhr, war ein Dienstwagen vor mir. Die Firma hat den gleichen Namen wie unser Bestatter. Da kamen die ersten Tränen.


    Facebook erinnerte mich dann daran, dass ich vor genau drei Jahren unsere Verlobung bekanntgegeben habe. Die nächsten Tränen.


    Heute hätte ich gemeinsam mit Silvia einen Termin beim Augenarzt gehabt. Ich habe bereits letzte Woche dort angerufen und Silvias Termin abgesagt. Gerade eben hat die Praxis angerufen und meinen Termin verschoben. Und wieder Tränen.


    Aber es ist besser als diese dumpfe Leere. Ich spüre wieder etwas, auch wenn es nur Schmerz ist.


    Bald ist wieder Wochenende und ich habe Angst davor. Bald ist Ostern, und ich habe Angst davor. Ich habe Angst vor dem Frühjahr, wenn überall das Leben neu erwacht. Ich habe Angst davor, manche Bilder nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Ich habe vor allem Angst vor der Einsamkeit.


    Gestern Abend habe ich in meinem Novalis geblättert und dort diese Zeilen gefunden, welche er nach dem Tod seiner Verlobten schrieb:

    "Es ist Abend um mich geworden, während ich noch in die Morgenröte hineinsah. Meine Trauer ist grenzenlos, wie meine Liebe...

    ...es bleibt Abend und wird bald Nacht werden."


    Liebe Grüße

    Josh

    Aber gerne doch.


    Abschied


    Was ist das Leben? Kommen nur und Schwinden,

    Ein Wechsel nur von Nacht und Tageshelle,

    Verlust und Schmerz, Sehnsucht und Wiederfinden,

    So schwebt durch Traum und Wachen hin die Welle, -

    Drum lächelt hoffend in der Trennung Wehen

    Durch Abschiedstränen schon das Wiedersehen.


    Ludwig Tieck

    Es tut mir gut, wenn ich auf die Frage "Wie geht es Dir?" offen antworten kann und mir zugehört wird. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass das meist nur mit Menschen funktioniert, welche auch schon ähnliche Lebenskrisen durchgemacht hatten oder derzeit durchmachen. Den meisten anderen fehlt das Einfühlungsvermögen.


    Liebe Grüße

    Josh

    Mai 2017. Silvia kam zur Reha nach Gailingen am Hochrhein. Eine wirklich tolle Einrichtung mitten im Wald auf einem Berg. Den ganzen Tag unglaubliches Vogelgezwitscher. Eichhörnchen spielten im Park. An den Feiertagen im Mai besuchte ich Silvia und an den Wochenenden nahm ich sie für eine Nacht mit nach Hause. Leider hatte sie durch den Rehasport bereits nach einer Woche an beiden Ellbogen eine Schleimbeutelentzündung. Ich nahm während dieser Zeit Kontakt zu Menschen aus, die am Hirntumorinformationtag teilgenommen hatten sowie zu Mitgliedern des Forums der Hirntumorhilfe sowie zweier FB-Gruppen zwecks Gründung einer Selbsthilfegruppe für Patienten und Angehörige.


    Juni 2017. Nach vier Wochen Reha durfte Silvia wieder nach Hause. Uns wurde mitgeteilt, dass sie dem Erwerbsleben nicht mehr zur Verfügung stehe. Was nun? So langsam ging das Krankengeld zu Ende. Ihr bisheriger Arbeitgeber hatte seinen Standort geschlossen und existierte nicht mehr. Also beschlossen wir, dass sie sich zunächst einmal arbeitslos melden solle, weil nur eine klein EU-Rente zu erwarten war und das ALG 1 deutlich darüber liegt. Ich beantragte einen Schwerbehindertenausweis, welcher uns mit einem GdB von 80 % bewilligt wurde.


    Im Juni hatten wir dann auch das erste Treffen mit sechs Mitgliedern unserer Selbsthilfegruppe. Silvia wollte natürlich nicht mit, da sie ihre Krankheit ja verdrängte. Es tat gut, andere Betroffene persönlich kennenzulernen und sich auszutauschen und es war ein wirklich schöner Abend. Leider verstarb kurz darauf der erste Angehörige eines Mitglieds unserer Gruppe. Da waren es nur noch fünf...


    Juli 2017. Ein erneutes MRT zeigte keinerlei Kontrastmittelaufnahme mehr. Der Tumor war verschwunden. Silvia bekam noch einmal CCNU, dann wurde beschlossen, aufgrund der schlechten Blutwerte und der positiven Bilder vom MRT auf die Chemotherapie zu verzichten. Silvia musste dann, als die Blutwerte wieder einigermaßen in Ordnung waren, nur noch zum vierteljährlichen MRT mit gleichzeitiger Blutwertkontrolle. Herrlich, die unzähligen Stunden in der onkologischen Ambulanz waren zu Ende. Mitte Juli beantragte ich ALG 1 für Silvia.


    August 2017. Da Silvia erst in Reha war und noch wöchentliche Blutkontrollen durchgeführt werden mussten, fuhren wir in diesem Jahr nicht in den Urlaub. Statt dessen machten wir in der Urlaubszeit schöne Tagesausflüge. Ich überlegte mir Ziele, welche Silvia gefallen könnten und erfreute mich an ihrer Freude. Zwischendurch nahm ich mir aber auch immer mal wieder Zeit für mich und unternahm lange, einsame Wanderungen. Das Leben war schön. So konnte es weitergehen.


    September 2017. Die Arbeitsagentur beschloss, Silvia auszugliedern. Zu diesem Zweck musste sie erneut in Reha, wieder nach Gailingen am Hochrhein. Dieses Mal blieb sie nur drei Wochen dort, sie wollte nicht verlängern. Wieder holte ich sie an den Wochenenden zu mir. Nach der Reha stellten wir den Rentenantrag, eine mickrige Rente mit 890 € netto bekam sie dann. Aber egal, ich verdiene ja auch Geld.


    Oktober 2017. Mit einem weiteren Mitglied unserer Selbsthilfegruppe ging es zu Ende. Er schrieb mir verzweifelte Nachrichten, aber irgendwann hatte ich nicht mehr die Kraft, ihm zu antworten. Dafür schäme ich mich bis heute sehr. Anfang Dezember verstarb er dann...

    Ab diesem Zeitpunkt tauschten wir vier verbliebenen uns nur noch per WahtsApp aus.


    Ein weiteres MRT zeigte keinen Tumor. Die Blutwerte waren wieder in Ordnung. Alles war gut.


    November und Dezember 2017. Alles war gut. Allerdings bemerkte ich, dass Silvia immer schwächer wurde. Der Neurologe verordnete ihr dann Rehasport und Logopädie gegen ihre Wortfindungsschwierigkeiten. Weihnachten und der Jahreswechsel waren wunderschön. Die Krankheit rückte immer weiter in den Hintergrund, verlor ihren Schrecken. Ja, ich hatte sogar die Hoffnung auf Heilung und Silvia glaubte, ganz gesund zu sein und konnte nicht nachvollziehen, weshalb sie immer noch zum MRT musste.

    Liebe Grüße

    Josh

    Vielen lieben Dank, Astrid und Ingrid.


    Heute vor sechs Wochen ist Silvia gestorben und heute bin ich traurig, warte geradezu auf die nächste Welle, habe vergangene Nacht auch kaum geschlafen. Ich schreibe jetzt die Geschichte von Silvias Krankheit weiter, auch um mich von meinen Selbstvorwürfen zu befreien.


    Januar 2017. Anfang des Monats wurde wieder ein MRT durchgeführt und enormes Tumorwachstum diagnostiziert. Dieses Mal war ich misstrauisch. Da ich mittlerweile ein halbes Medizinstudium hinter mir hatte und sehr gut vernetzt war, wusste ich, dass häufig bei einer Chemotherapie in Verbindung mit Methadon ein starker Tumorzerfall einsetzt und dieses Nekrosegewebe häufig als Tumorwachstum gedeutet wird (ein sogenannter Pseudoprogress). Silvia wurde wieder Cortison verordnet.


    Dieses Mal wollte ich eine Zweitmeinung, diese holten wir zuerst ein und machten einen Termin beim UK in Freiburg. Ein recht netter Neurochirug unterhielt sich mit uns, versprach uns sogar, dass zunächst ein PET durchgeführt würde, um einen Pseudoprogress auszuschließen. Ein PET gehört nicht zum Standard und ist recht teuer, wird nicht von jeder Krankenkasse bezahlt. Sie wollten sich im Tumorboard besprechen und sich dann wieder bei uns melden. Das hörte sich zunächst recht gut an.


    Einige Tage danach hatten wir den Termin in Tübingen, hier wurde uns gesagt, dass es unzweifelhaft ein Tumorwachstum sei, ein PET nicht nötig wäre und eine Operation zu gefährlich sei, weil die Gefahr bestehe, dass sie auf einem Auge erblindet. Die einzige Option sei eine Re-Bestrahlung.


    Nun warteten wir auf den Anruf aus Freiburg. Zwei oder drei Tage vergingen, dann rief man mir an. Ein PET sein nicht nötig, unzweifelhaft Tumorwachstum und sie rieten zu einer Operation, wiesen aber ebenfalls auf die Gefahr einer Erblindung hin. Ich war stinkig, hatte ich doch so auf das erbetene PET gehofft und einen guten ersten Eindruck gehabt.


    Was also tun? Zwei Kliniken, zwei Meinungen, das konnte und wollte ich nicht entscheiden. Ich fragte also Silvia, und sie entschied sich für eine Re-Bestrahlung. Das war während des gesamten Krankheitsverlaufs das einzige Mal, dass sie selbst entschied, ansonsten verdrängte sie alles. Vor jedem MRT sprach sie kurz über ihre Angst, aber dann war das Thema wieder vom Tisch.


    Ende Januar wurde dann die erneute Bestrahlung vorbereitet. Zunächst wurde noch einmal ein MRT gemacht. Nach dem MRT bat ich Silvia, viel zu trinken, um das Kontrastmittel auszuschwemmen worauf sie mir erwiderte, sie habe überhaupt keines bekommen. Wie jetzt? Ich schenkte dieser Aussage keine Beachtung und schob es auf ihre Vergesslichkeit aufgrund des Hirntumors. Am Abend kam dann ein Anruf aus Tübingen, beim MRT sei "irgendetwas" schiefgegangen und wir sollen am nächsten Tag zu einem erneuten MRT kommen. Mein Hals wurde immer dicker.


    Am nächsten Tag wurde dann wieder ein MRT (diesmal mit Kontrastmittel) und siehe da - die Kontrastmittelaufnahme war deutlich zurückgegangen. Also doch ein Pseudoprogress, hatte ich doch von Anfang an den richtigen Riecher. Unsere Erleichterung war groß, trotzdem ärgerte ich mich über falsche Versprechungen und die schlechte Organisation. Die Behandlung wurde mit CCNU und Methadon fortgeführt.


    Februar - März 2017. Ab Mitte Februar begann Silvia, das Cortison wieder auszuschleichen. Im März machten wir wieder eine erste gemeinsame Wanderung, sie war aber noch sehr schwach. Aber es ging aufwärts und wir waren guter Dinge. Ihre Blutwerte verschlechterten sich weiter und die Pausen zwischen den Chemoblöcken wurden länger.


    April 2017. Ein weiteres Kontroll-MRT ergab nur noch eine ganz geringe Kontrastmittelaufnahme. Tolles Ergebnis. Silvia sollte nun in Reha gehen. Wir teilten dem Rentenversicherungsträger unsere Wunschklinik mit und warteten auf Antwort. Unsere Wunschklinik wurde zunächst nicht genehmigt, sie sollte in eine Klinik, welche auf die Behandlung von Störungen des Bewegungsablaufs spezialisiert ist. Damit hatte Silvia ja gar keine Probleme, also legte ich Widerspruch ein, begründete diesen ausführlich und schließlich wurde unsere Wunschklinik bewilligt.


    Im April war auch Hirntumor-Informationstag in Tübingen, welchen ich besuchte. Zunächst berichteten die Leiterin der Neurochirugie sowie der Leiter der Radioonkologie über neue mögliche Behandlungsansätze. Anschließend war offene Fragerunde. Eine Teilnehmerin, welche mit ihrem Mann da war, stellte schließlich die Frage nach Methadon. Und jetzt ging es los. Frau Professor erzählte einen völligen Blödsinn, nannte viel zu hohe Dosierungen und die Lebensgefahr, welches Methadon hervorrufen solle (tatsächlich ist bis heute kein Mensch an Methadon gestorben, wenn es begleitend zu Chemotherapie verwendet wird. Gegenteilige Aussagen, welche z. B. im Ärzteblatt veröffentlicht wurden, mussten durch Gerichtsbeschluss widerrufen werden). Ich widersprach Frau Professor vehement, nannte die richtigen Dosierungen und erzählte von Silvias Krankheitsverlauf. Anschließend stritt ich noch mit dem Leiter der Radioonkologie über Sinn und Unsinn von MRT und PET. Nach dem Veranstaltungsende standen dann sehr viele Teilnehmer/innen bei mir und wir tauschten Telefonnummern aus. Ich beschloss, mir einen Vollbart wachsen zu lassen, um beim nächsten Termin in Tübingen nicht wiedererkannt zu werden...

    Ach ihr Lieben,


    ich finde mich in euren Beiträgen wieder. Dinge anzuschauen, welche gemeinsame Freude bereitet haben oder welche der Partner/in wichtig waren, nicht mehr lesen zu können, Schlaflosigkeit, Wellen der Trauer, Zukunftsängste...


    Ja, ich finde mich wieder. Fühlt euch umarmt.


    Liebe Grüße und einen einigermaßen erträglichen Tag

    Josh

    Danke schön, Josef.


    Heute habe ich ein paar Zeilen des alten Anarchisten Erich Mühsam, der viel zu früh von den Nazis ermordet wurde:


    Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen,

    nun diese dumpfe, trübe, nasse Nacht,

    als wär die Arbeit aller Zeit vollbracht

    und niemals wieder Hoffnung auf Gelingen.


    Wohin die Schritte weisen, da das Ziel

    ertrank im nebeligen Grau der Wege?

    Ich such nur noch, wo ich mich niederlege,

    den stillen Platz. Verloren ist das Spiel.


    Ich höre vieler Menschen Schritte tasten -

    verirrte Menschen, einsam, müd und arm -

    und keiner weiß, wie wohl ihm wär und warm,

    wenn wir einander bei den Händen fassten.


    Erich Kurt Mühsam

    Danke, Tereschkowa und Tina.


    Gestern Abend war ich wieder total dumpf und ich habe mich unendlich alleine gefühlt. Aber ich hatte keine Kraft mehr zu schreien. Alles war leer. Ich war des Lebens müde.


    Gerade war ich an Silvias Grab. Der gestrige Sturm hat die Kerzen gelöscht, ich habe sie neu angezündet und die Blumen vom Schnee befreit. Seltsam, dieses Mal konnte ich nicht einmal weinen. Nur diese entsetzliche Leere, die ich in mir fühle. Da ist mir sogar der Schmerz beinahe lieber.


    Liebe Grüße

    Josh

    Vielen Dank, Petra und Frank.


    Mein Wochenende ging so halbwegs. Am Freitag bin ich abends ausgegangen und habe anschließend noch viel mit einer Freundin geschrieben, welch mich etwas auffangen konnte.


    Samstags bin ich auch kurz unter Leute und habe abends dann wieder viel geschrieben, aber als ich dann ins Bett gehen wollte, brach alles wieder auf und ich habe geheult und geschrien und die ganze Nacht nicht geschlafen.


    Sonntags war ich dann wie betäubt. Es ging so halbwegs.


    Heute morgen wurde mir noch eine Kondolenzkarte in die Hand gedrückt. Da brach alles wieder auf.


    Liebe Grüße

    Joch

    Liebe StillCrazy,


    ich denke an euch und wünsche euch noch möglichst viele schöne gemeinsame Erlebnisse, an die Du Dich irgendwann mit einem Lächeln zurückerinnern kannst.


    Ganz liebe Grüße

    Josh

    Karin, ich danke Dir. Du hast auch sehr viel mitgemacht. Fühl Dich umarmt.


    So, ihr Lieben, ein weiteres einsames Wochenende steht vor der Tür. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Die Sonne lacht gerade, aber ich kann mich zu nichts aufraffen.


    Zum Wochenende lasse ich euch noch ein paar Zeilen von Novalis hier. Mögen sie uns allen etwas Trost spenden:


    Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.

    Freier Tod des Geistes, freier Tod des Menschen.


    Liebe Grüße und vielen Dank, dass es euch gibt.

    Josh

    Juni 2016. Im Tumorboard wurde beschlossen, dass eine Operation zu riskant sei und man die Chemotherapie auf CCNU (Lomustin) umstellen wolle. Ich fragte nach der zusätzlichen Gabe von Methadon und wurde angeschaut, als hätte ich jemanden umgebracht. Nein, das ginge gar nicht, zu viele Nebenwirkungen, zu gefährlich, bringt nichts, keine Studien liegen vor. Okay, dann wusste ich, dass ich im UK nicht mehr danach fragen sollte. Wieder zurück bei unserer Onkologin, sprach ich diese auf Methadon an. Sie meinte, dass sie schon Patienten hatte, welche Methadon nahmen, dieses ihrer Meinung nach aber nichts gebracht habe. Dann schaute sie mich an und sagte: "Aber ihnen gibt das Methadon Hoffnung? Dann verschreibe ich es ihnen, die Nebenwirkungen sind vertretbar." Was für eine tolle, emphatische Ärztin.


    Ich telefonierte darauf mit einem Palliativmediziner, welcher sehr gute Erfahrungen mit Methadon hat und dieser schickte unserer Onkologin einen Einschleichplan zu. Silvia begann nun langsam, das Methadon einzuschleichen und hatte während dieser Zeit stark mit Tagesmüdigkeit zu kämpfen. Sie schlief während dieser Einschleichphase die ganzen Vormittage.


    Juli 2016. Ein Kontroll-MRT zeigte einen Stillstand des Wachstums. Welch eine Erleichterung. Also beschlossen wir, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Da ich kurz zuvor von der Selbständigkeit in eine Angestelltenverhältnis gewechselt war, hatte das Finanzamt heftige Nachforderungen (es wird teuer, wenn Geschäftsvermögen in Privatvermögen übergeht) und ich war finanziell etwas klamm. Also verkaufte ich mein geliebtes Motorrad, um uns diesen möglicherweise letzten Urlaub finanzieren zu können.


    August 2016. Wir verbrachten einen relativ kurzen, aber wunderschönen Urlaub in Österreich und Silvia konnte mit mir einige kleinere Wanderungen unternehmen. Das Leben war zurückgekehrt. Ich hatte die Krankheit zwar immer noch im Hinterkopf, konnte diese aber zumeist verdrängen. Trotzdem recherchierte ich weiter.


    September 2016. Ein unbeschwerte Monat. Wir machten gemeinsam einen der Traufgänge und Silvia war stolz darauf, diese 10 Kilometer geschafft zu haben. Die Einschleichphase von Methadon war vorbei und sie hatte bis zu ihrem Tod mit keinerlei Nebenwirkungen zu kämpfen.


    Oktober 2016. Ein weiteres Kontroll-MRT zeigte eine leichte Tumorrückbildung. Allerdings verschlechterte sich das Blutbild von Silvia, weshalb die Abstände zwischen den Chemozyklen verlängert werden mussten.


    November 2016. Abgesehen von meiner alljährlichen Winterdepression war die Welt in Ordnung.


    Dezember 2016. Noch vor einem halben Jahr hatte ich nicht mehr an ein gemeinsames Weihnachtsfest geglaubt. Seit dem Sommer hatte ich mir auch etwas Freiräume geschaffen, spielte wieder Boule, ging auf Turniere und nahm an den Treffen der anonymen Horologiker teil. Unser Weihnachtsfest sowie der Jahreswechsel waren wunderschön. Ihre Persönlichkeit hatte sich verändert, körperliche Nähe ließ sie nicht mehr zu (außer Händchen halten), ihre Wortfindungsschwierigkeiten erforderten viel Geduld und sie war etwas kindlich. Unsere Beziehung fand nun auf einer völlig anderen Ebene statt, aber die Welt war in Ordnung. Und ich lebte plötzlich viel bewusster, nahm also auch das wahr, was StillCrazy in ihrem Faden bereits beschrieben hat.


    Das Leben war schön.


    So, das war unser erstes Jahr mit dieser Krankheit. Es tut mir gut, das von der Seele zu schreiben. Ich habe nie wirklich mit jemand darüber geredet und schreiben fällt mir auch leichter als reden.


    Liebe Grüße

    Josh

    Danke Karin. Doch, das hilft mir.


    Hier kann ich meine Gedanken niederschreiben und ich werde verstanden. Ich muss mir einfach die vergangenen drei Jahre von der Seele schreiben.


    15. Januar 2016. Silvia war an diesem Wochenende nicht bei mir, vermutlich hatten wir unser traditionelles Dreikönigsturnier des Boule-Clubs an diesem Wochenende. Nachmittags rief mich ihre jüngste Tochter weinend an und erzählte, dass Silvia nichts mehr gesehen hätte und sie eben noch anrufen konnte, ehe sie einen epileptischen Anfall bekam. Die Wohnungstür musste aufgebrochen werden und sie kam sofort im Stadtkrankenhaus in die Röhre zum CT.


    Ich fuhr sofort in Krankenhaus, Silvia war mittlerweile wieder bei Bewusstsein und es schien ihr gut zu gehen. Bald kam ein Arzt und erzählte etwas von einer "Raumforderung im Gehirn", also einem Tumor. Die weitere Vorgehensweise würde dann nach einem MRT geklärt. Bis dahin sollte sie im Stadtkrankenhaus bleiben und sie bekam Keppra gegen die epileptischen Anfälle. Spät Abends fuhr ich dann nach Hause.


    16. - 25. Januar 2016. ich besuchte Silvia täglich im Stadtkrankenhaus und wir machten kleine Spaziergänge auf den Krankenhausgelände. Sie hatte große Angst und war sehr unsicher, wie es weitergehen würde. Ich hatte mich mittlerweile über die verschiedenen Tumorarten informiert und mich auch im Forum der Hirntumorhilfe angemeldet. Da ihre Schwester vor längerer an einem gutartigen Meningeom erkrankt war, hoffte ich darauf, dass Silvia auch so einen hat, so als eine Art Erbkrankheit.


    26. Januar 2016. Mittlerweile wurde ein MRT gemacht und die Bilder ans Universitätsklinikum Tübingen geschickt. Dort wurde beschlossen, dass eine Operation möglich sei. Morgens wurde Silvia dann ins UK verlegt, nachmittags kam ich dann mit einer ihrer Töchter dazu. Die Operation wurde auf den 27. Januar geplant. Zunächst kamen wir zum Narkosearzt. Dieser erklärte uns, dass die Operation sehr lange dauern würde und Silvia im Wachzustand operiert werden müsse. Er beschrieb sehr plastisch und äußerst unsensibel, wo überall Zu- und Abgänge gelegt werden sollten und Silvia bekam einen Nervenzusammenbruch. Fünfzehn Minuten später hatten wir dann den Termin beim Neurochirugen. Dieser teilte uns mit, dass die Operation noch um einen Tag verschoben werden sollte, da er sich erst mit weiteren Kollegen austauschen wolle. Ich besuchte Silvia jeden Tag, und die Operation wurde erneut verschoben. Silvia hatte während dieser Zeit panische Angst vor der Wach-OP und es war schwer, sie halbwegs zu beruhigen.


    29. Januar 2016. Silvia wurde endlich operiert, und zwar unter Vollnarkose. Da hatte ich einen richtig dicken Hals, weil man sie vier Tage lang in Angst vor der Wach-OP ließ. Mir wurde mitgeteilt, dass sie nach der OP einen Tag auf der Intensivstation und anschließend noch 3 Tage auf der Neurochirugie verbringen sollte und dann nach Hause dürfe. Der Tumor konnte nahezu vollständig entfernt werden.


    30. Januar 2016. Ich besuchte Silvia auf der Intensivstation. Sie war kaum ansprechbar und schickte mich nach 10 Minuten wieder weg.


    2. Februar 2016. Nach drei Tagen auf der Intensivstation lag Silvia nun endlich auf der neurochirugischen Station. Sie hatte durch die Operation massive Wortfindungsschwierigkeiten, welche sich zwar noch ein kleines bisschen verbesserten, sie aber den Rest ihres Lebens belasten sollten. Nun begann das bange Warten auf den histologischen Befund.


    4. Februar 2016. Heute sollten wir das Ergebnis des histologischen Befundes bekommen. Bevor der Arzt kam, machte ich Silvia einen Heiratsantrag, auch um ihr zu signalisieren, dass ich unabhängig vom Befund mit ihr zusammenbleiben will und zu ihr stehe. Sie freute sich sehr.


    Der Arzt teilte uns mit, dass es sich um ein Glioblastom handle und dieses unheilbar sei. Ich wusste damals bereits, dass die mediane Lebenserwartung bei dieser Erkrankung bei 15 Monaten liegt. Silvia saß seitlich da und schien dem Arzt nicht zuzuhören. Sie setzte seit diesem Zeitpunkt Scheuklappen auf und beteiligte sich in keiner Weise an dem Gespräch.


    5. Februar 2016. Entlassungstermin. Wir hatten ein abschließendes Gespräch mit der Stationsärztin. Auch hier setzte Silvia ihre Scheuklappen auf. Die Ärztin empfahl uns, baldmöglichst eine Patientenverfügung aufzusetzen. Die weitere Behandlung sollte in unserem Kreiskrankenhaus stattfinden. Sie sollte vier Wochen nach der OP 30 Bestrahlungen bekommen und sechs Monate Chemotherapie mit Temodal, Standardbehandlung bei Glioblastompatienten. Gleichzeitig sollte sie Keppra gegen Anfälle und Cortison gegen Hirnschwellungen nehmen. Dann durfte ich Silvia mit nach Hause nehmen.


    Februar 2016. Silvias körperlicher Zustand besserte sich allmählich, aber die Wortfindungsschwierigkeiten dauerten an. Anfangs kannte sie nicht einmal mehr meinen Namen oder die Namen ihrer Kinder. Da Silvia auch jetzt keine Fragen zu ihrer Krankheit stellte, beschloss ich gemeinsam mit den Töchtern, dass sie das Recht darauf hat, nichts zu wissen. Das war ihr Schutzwall, ihr Verdrängungsmechanismus.


    Ich rief wegen einer Patientenverfügung beim Notar an und dieser empfahl uns, einfach eine Generalvollmacht der Esslinger Initiative aus dem Internet zu laden. Diese benötige keine notarielle Beglaubigung und würde überall anerkannt. Das war tatsächlich so, diese Generalvollmacht wurde in den nächsten Jahren überall akzeptiert. Silvia setzte mich und ihre Tochter Nadine als Bevollmächtigte ein. Da Nadine sich mit der Thematik allerdings wenig auseinandersetzte, lag nun die ganze Verantwortung bei mir und ich hatte damit ein schweres Päckchen zu tragen. Ich vertrat bis dahin immer die Theorie: "Männer sind mit sieben Jahren erwachsen. Danach wachsen sie nur noch." ;)

    Nun war ich schlagartig erwachsen.


    Um ihre Wortfindungsschwierigkeiten zu bessern, spielte ich mit ihr ein einfaches Memory und bei jeder Karte, die sie aufdeckte, sollte sie den Namen dazu sagen. Es war furchtbar. Ein Apfel war eine Banane, ein Hund war ein Pferd, Eine Rose war eine Tomate etc. Zu 90 % konnte sie die Bilder nicht benennen. Zu meinem Erstaunen gewann sie aber meistens, sie konnte sich gut merken, wo die Karten lagen.


    29. Februar 2016. Der erste Bestrahlungstermin. Zuvor wurde eine Planungs-CT durchgeführt und dort bekam ich das erste Mal mit, dass Silvia unter furchtbarer Platzangst litt. Bei einer Kopfbestrahlung wird für den Patienten eine enge Maske angefertigt und der Patient dann mit dieser auf dem Tisch befestigt. Silvia wurde in den Bestrahlungsraum gebracht und kurz darauf hörte ich sie laut schreien und weinen. Der Versuch wurde abgebrochen und sie bekam eine Tavor zur Beruhigung. 15 Minuten später erfolgte der nächste Versuch, wieder wurde dieser abgebrochen. Nach weiteren 15 Minuten wurde es wieder versucht, dieses Mal durfte ich mit in den Bestrahlungsraum und ihre Hand halten, ehe es in die Röhre ging. Kaum ließ ich ihre Hand los, begann sie wieder zu schreien und zu weinen. Der Versuch wurde erneut abgebrochen und die Krankenhauspsychologin dazugeholt. Nach einem langen Gespräch mit dieser und nach einer erneuten Gabe von Tavor konnte dann endlich bestrahlt werden. Ich war mit den Nerven am Ende und heulte Rotz und Wasser. Anschließend hatten wir den ersten Termin bei der Onkologin, welche sehr einfühlsam war. Zu ihr fassten wir sofort Vertrauen und sie war auch die ganzen drei Jahre die einzige Ärztin unseres Vertrauens.


    März - April 2016. Fünf mal die Woche Bestrahlungen, mittlerweile ging es relativ problemlos, sie musste aber jedesmal erst eine Beruhigungstablette nehmen. Die Bestrahlung und die Chemotherapie machten sie sehr müde und an der bestrahlten Stelle fielen ihr die Haare aus. Fortan trug sie eine Mütze. Im Laufe der Zeit wuchsen die Haare wieder nach, an der bestrahlten Stelle sehr lockig, aber sie hatte ihre Löwenmähne wieder, auf welche sie sehr stolz war. Während dieser Zeit informierte ich mich ausführlich über weitere Heilmethoden (Weihrauch, Selen, Vitamine, basische Ernährung, Methadon etc.) und verwarf alles, nur das Methadon als Wirkstoffverstärker hörte sich interessant an und daran wurde auch gerade von einer Chemikerin aus Ulm geforscht, zu welcher ich dann auch Kontakt aufnahm. Diese war sehr nett, mittlerweile wirkt sie aber etwas verbittert, weil sie kaum Forschungsgelder für eine Studie aufbringen kann. Die ganzen drei Jahr recherchierte ich tagsüber in den Foren, las Studien und abends sowie an den Wochenenden wurde die Krankheit verdrängt.


    Mai 2016. Mitte des Monats wurde das erste Kontroll-MRT nach dem zweiten Chemoblock und vier Wochen nach dem Ende der Bestrahlungen durchgeführt. Leider wurde ein erneutes Tumorwachstum festgestellt. Die Bilder wurden ins UK geschickt, dort sollten sie im Tumorboard besprochen werden. Banges Warten voller Angst. Beim Termin im UK wurde uns mitgeteilt, dass das Tumorboard nicht stattgefunden hatte und wir eine Woche später wieder kommen sollen. Mein Hals schwoll an, das hätte man uns ja auch telefonisch mitteilen können. Und eine weitere Woche voller Angst.

    Und noch etwas von Heinrich Heine:


    Mein Herz ist traurig


    Mein Herz, mein Herz ist traurig,

    Doch lustig leuchtet der Mai;

    Ich stehe, gelehnt an der Linde,

    Hoch auf der alten Bastei.


    Da drunten fließt der blaue

    Stadtgraben in stiller Ruh′;

    Ein Knabe fährt im Kahne

    Und angelt und pfeift dazu.


    Jenseits erheben sich freundlich,

    In winziger, bunter Gestalt,

    Lusthäuser und Gärten und Menschen

    Und Ochsen und Wiesen und Wald.


    Die Mägde bleichen Wäsche,

    Und springen im Gras herum;

    Das Mühlrad stäubt Diamanten,

    Ich höre sein fernes Gesumm.


    Am alten grauen Turme

    Ein Schilderhäuschen steht;

    Ein rotgeröckter Bursche

    Dort auf und nieder geht.


    Er spielt mit seiner Flinte,

    Die funkelt im Sonnenrot,

    Er präsentiert und schultert -

    Ich wollt′, er schösse mich tot.

    Lieber Josef, das Gedicht von Eichendorff habe ich das erste Mal in einem Spielfilm gehört, in welchem es von der wunderbaren Iris Berben rezitiert wurde.


    Heute habe ich ein Gedicht des alten Spötters Heinrich Heine:

    Lamentationen

    Das Glück ist eine leichte Dirne

    Und weilt nicht gern am selben Ort;

    Sie streicht das Haar dir von der Stirne,

    Und küsst dich rasch und flattert fort.


    Frau Unglück hat im Gegenteile

    Dich liebefest ans Herz gedrückt;

    Sie sagt, sie habe keine Eile,

    Setzt sich zu dir ans Bett und strickt.

    Vielen lieben Dank euch allen.


    Gestern kam niemand mehr und ich konnte mich zuschütten und heulen.

    Leider hat sich aber auch keine von Silvias Töchtern bei mir gemeldet. Das finde ich sehr traurig. Wenn sie etwas brauchen, stehen sie da, aber aus den Augen, aus dem Sinn.


    Gerade habe ich ein bisschen mit meiner Chefin, die auch eine Freundin ist, geredet. Sie hat vergangenes Wochenende ihren Vater verloren.


    Wie es mir geht? Ich habe einen Kater, wieder einen Schwamm im Kopf und habe Angst vor dem Wochenende.


    Liebe Grüße

    Josh