Ihr Lieben,
vielen Dank für eure warmen, aufrichtigen und verständnisvollen Worte! Über die Weihnachtstage habe ich oft an euch gedacht, mich gefragt, wie es euch wohl ergeht und ob ihr einigermaßen gut klar kommt.
Ich hoffe, dass dem so war?!
Bei mir war es tatsächlich ok. Den Heiligabend selbst habe ich ausschließlich geweint. Ich habe "Ave Maria" in Endlosschleife gehört und bin irgendwann zu Disney-Filme übergegangen: zum "König der Löwen". Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet zu diesen Filmen gegriffen habe. Vielleicht, weil sie mich in meiner Kindheit so stark geprägt haben und ich selbst noch als Erwachsene in den letzten Jahr oft mit meiner Mama in unsere Lieblings-Disneys geschaut haben.
So oder so, war es eine gute Entscheidung gewesen. Einfach Weinen, einfach dem Schmerz Raum geben. Plötzlich kamen so viele Erinnerungen hoch, so wunderschöne Erinnerungen. Und dann hatte ich nicht mehr das Gefühl, alleine zu sein. Einmal war ich fest davon überzeugt, dass sie zu mir gesprochen hat - aber leider weiß ich nicht mehr, was sie gesagt hatte. Der Schock saß mir total in den Knochen. Aber ich hatte deutlich ihre Stimme vernommen, nur eben nicht genau, was sie gesagt hat.
Verrückt, oder?
Die übrigen Tage habe ich mit Büchern und Malen verbracht, meine treue Scarly verlässlich im Schlepptau. Nun geht dieses entsetzliche Jahr endlich zu Ende...
Es gibt einen Brauch in meiner Familie: zwischen den Jahren darf nicht gewaschen werden, sonst stirbt jemand. Ich wusste nie, woher dieser Brauch kam und gestern hörte ich durch Zufall einen Beitrag, der diesen Brauch erklärte. Er hängt mit den Rauhnächten zusammen, die genau in dieser Zeit stattfinden und die "Tür" zwischen Diesseits und Jenseits öffnet. Doch es können nicht nur unsere verstorbenen Lieben zu uns, sondern es kommen auch die wilden Reiter. Wer zwischen den Jahren Wäsche aufgehängt hat, dem stehlen diese Reiter die Wäsche und bringen sie im neuen Jahr zurück. Dann allerdings als Leichentuch.
Im Jahr 2019 habe ich diesen Brauch vollkommen verwechselt. Ich hatte gedacht, man dürfe auf keinen Fall mit schmutziger Wäsche ins neue jahr und darum unbedingt zwischen Weihnachten und Neujahr waschen. Völlig stolz kam ich am 31.12.2019 zu meiner Mama und sagte: "So, ich habe alles gewaschen, kein einziges schmutziges Wäschestück ist mehr übrig!" Meine Mama wurde ganz blass und klärte mich auf. Panik überkam mich. Dann sagte sie: "Ach, das sind alte Bräuche und Traditionen, deswegen stirbt doch keiner!"
Man mag jetzt denken und glauben, was und woran man will. Aber dieses schreckliche Gefühl bleibt. Ich habe gewaschen. Zwei Monate später war meine Mama tot. Es ist etwas, das sich nur noch auf die Liste der Vorwürfe, die ich mir selbst mache, oben drauf kommt. Auch wenn ich mir sage: wie viele Menschen waschen zwischen den Jahren, ohne von diesem Glauben zu wissen und niemand in ihrem Umfeld stirbt?!, krümmt sich mein Herz zusammen.
Kennt ihr diesen Brauch? Oder gibt es ähnliche Traditionen bei euch? Meine Mama war nicht konservativ, gar nicht, aber ihr lagen Traditionen am Herzen. Das hat sie mir weitergegeben. Vielleicht war dies mit ein Grund, warum ich schließlich Kulturwissenschaften studierte. Wer weiß.
Heute habe ich eine Nähmaschine abgeholt, die ich über ebay erstanden habe. Es ist ein langer Wunsch von mir, nähen zu lernen. Und dieses Können liegt eigentlich tatsächlich in meiner Familie: Meine Ur-Großeltern hatten eine Textilfabrik, meine Mama ist quasi auf der Nähmaschine aufgewachsen und hatte deswegen eine Aversion gegen Nähen, obwohl ihr Bezug zu Textilien und Mode immer im Hintergrund geblieben war (nicht beruflich, aber eben in Form von privatem Interesse). Aber so kam es, dass ich nicht einmal richtig einen Knopf annähen kann. Und plötzlich wollte ich unbedingt diese nähmaschine, war so froh, dass jemand in meinem WOhnort eine günstig abzugeben hat. Und als ich heute Nachmittag diese Maschine ausprobierte, hatte ich plötzlich das Gefühl, meine gesamte Familie wäre um mich. Das war unglaublich schön. Ich habe meine Oma nie kennen gelernt, sie starb ja ein Jahr vor meiner Geburt. Laut meiner Mama bin ich ihr jedoch extrem ähnlich. Und durch die vielen Erzählungen meiner Mama, hatte ich immer ein sehr enges Gefühl zu ihr. Zu ihr, aber auch zu meiner Ur-Großmutter. Meine Gebete gingen immer zu meiner Familie mütterlichseits, von der ich felsenfest überzeugt war, dass sie ihre schützende Hand über mich hielt. Am 12.02. dieses Jahres schaute ich in den Himmel und sagte: "Oma, bitte: du hattest sie länger als ich. Bitte, bitte nimm sie mir nicht weg!" Doch meine Mama starb am 13.02., auf den Tag genau 30 Jahre nach meiner Oma. Und was tat ich, als ich nachhause kam? Genau: ich schaute zu dem Foto meiner Oma und sagte wutentbrannt: "Warum? Warum hast du das getan?!"
Seitdem habe ich nie wieder mit meiner "Oma" gesprochen. Ihr Bild im Wohnzimmer habe ich auf die Seite gehängt, der ich mit dem Rücken zugewandt sitze. Tatsächlich habe ich seit diesem Tag nie mehr ihre Anwesenheit gespürt. Das wollte ich auch nicht. Ich war zu wütend.
Und dann heute das. Dieses Gefühl, dass in meinem kleinen Büro (zuhause natürlich) nicht nur ich bin, die mit der Nähmaschine herumprobiert, sondern auch meine Mama und ihre Mama. Dass sie mir schmunzelnd zuschauen, wie ich die alte Familien-Kompetenz wieder aufleben lasse, dass sie sich darüber freuen. Dieses Gefühl war so stark, dass sogar mein Verstand sich zurückgezogen hat und sich weigerte, nicht daran zu glauben.
Es sind die Frauen meiner Familie, an die ich oft denke, wenn ich am liebsten aufgeben möchte. Meine Ur-Oma, meine Oma, meine Mama. Alle drei hatten ihre Schicksalsschläge, alle drei waren so unfassbar starke Kämpfernaturen. Ich war immer stolz auf meine Familie. Und dieser Stolz lässt mich auch weiterkämpfen. Denn ich möchte nicht diejenige sein, die diese Konstante unserer Familie plötzlich unterbricht und schwächelt.
So, da habe ich jetzt aber wirklich einfach von der Seele geschrieben! Danke für alle, die es sich tatsächlich durchgelesen haben
Ich wünsche euch allen von ganzem Herzen das Beste für 2021! Kommt gut rüber und denkt dran: wir haben alle unseren eigenen, ganz persönlichen Schutzengel