Liebe Mittrauernde,
das erste Trauerjahr ist jetzt auch bei mir vorbei und ich versuche mal einen Rückblick und eine Bestandsaufnahme, für mich und für alle, die es interessiert.
Zunächst einmal: das Leben ist weitergegangen, für mich ist das nicht nur eine Floskel, sondern meine konkrete Erfahrung. Ich sehe es an unseren Söhnen, beide habe jetzt wunderbare Freundinnen, die mein Mann leider nicht mehr persönlich kennenlernen durfte, der eine befindet sich zudem in einem völlig neuen Lebensabschnitt. Ich sehe es aber auch an mir selbst, auch ich habe mich verändert. Ich war immer ein relativ ausgeglichener Mensch, das heftige Auf-und-Ab der Gefühle in der Trauer und was da alles dazugehört, das hat mich schon überrascht. Eigentlich weitgehend überwunden geglaubte Angstzustände sind wieder aufgetaucht und tun das bisweilen immer noch. Ich habe mich aber auch als stärker empfunden, als ich das in den Jahren zuvor war. Die Kraft, die mir und uns als Familie gerade in den ersten Tagen und Wochen zugewachsen ist, sehe ich rückblickend als ganz großes Geschenk an, woher auch immer es kam. Meine schon immer vorhandene Nachdenklichkeit, meine Traurigkeit und Schwermut nehmen ganz klar mehr Raum ein als früher, aber diese Haltung erscheint mir im Moment auch als dem Leben gegenüber angemessen. Ich denke, ich komme damit klar, weil ich nach wie vor in der Lage bin, auch Schönes wahrzunehmen und mich darüber zu freuen. Ich hatte und habe da auch keinerlei Schuldgefühle, verstehe ehrlich gesagt auch nicht, dass sich viele damit so sehr das Leben schwer machen. Aber ja, noch gibt es viele, zu viele Stunden und Tage, die sich einfach nur schwer anfühlen und bei denen man am Ende nur froh ist, dass sie vorüber sind. Wieder ein bisschen mehr Leichtigkeit im Leben zu spüren wäre ein schönes Ziel für dieses Jahr...
Der Alltag mit meinem Ralf kommt mir heute schon ziemlich weit weg vor, an meinen neuen Alltag mit viel Alleinsein habe ich mich einigermaßen gewöhnt. Ich habe im Laufe des Jahres einige Aufbrüche in die "normale" Welt da draußen erlebt, wurde aber häufig wieder "zurückgeschickt" in den Rückzug, immer wieder durch Migräne, meine mittlerweile ebenso chronischen Rückenschmerzen, Corona... Ich ahne, dass so mein "neues Leben alleine" bis auf weiteres aussehen wird, ein Wechsel zwischen Aktivität und Kontakt auf der einen Seite und immer wieder Rückzug und Alleinsein auf der anderen Seite. Ich versuche dann, mich nicht einsam zu fühlen, was mir mal besser mal schlechter gelingt. Ein bisschen habe ich es in den letzten Jahren gelernt, Verbundenheit zu empfinden auch ohne physischen Kontakt, ohne ständiges Im-Gespräch-Sein. Auch hier im Forum kann ich die Gemeinschaft all derer, die ähnliches erlebt haben, spüren, auch wenn ich phasenweise nur sehr wenig selbst schreibe und Antworten bekomme.
Nach wie vor mache ich gute Erfahrungen damit, alles in meinem Tempo und meiner Intuition entsprechend zu entscheiden. Im letzten Monat erst habe ich Fotos von ihm im Haus aufgestellt. Auf einmal wusste ich genau, welches Bild ich an welcher Stelle gerne sehen möchte und mache jetzt die schöne Erfahrung, dass es mir gut tut, in sein lachendes Gesicht zu blicken. Ebenso habe ich das ganze Jahr gebraucht, um zu einer positiven Entscheidung über einen Jenseitskontakt zu kommen. Plötzlich war der klare Impuls dazu da und ich wusste auch, zu wem ich dafür gehen möchte. Ich hoffe, dass der Kontakt mir dabei helfen wird, unsere immer noch bestehende und doch getrennte Verbindung in Zukunft weiter zu leben.
Ich denke, ich habe auch einen guten Weg gefunden, mit den belastenden Erinnerungen rund um den Sterbetag umzugehen. Ich sage mir: Ja, es war furchtbar, das alles zu erleben, aber es ist vorbei, für ihn, für mich, für uns alle. Und irgendwie schaffe ich es, die Gedanken daran dann wieder gehen zu lassen.
Was mir insgesamt am meisten geholfen hat? Neben meiner Fähigkeit, mich relativ schnell an neue Gegebenheiten anzupassen (die unsere Söhne glücklicherweise genauso zeigen) und meiner "Begabung zum Alleinsein" vermutlich wirklich einfach die Annahme dessen, was geschehen ist, und die Haltung, Schwierigkeiten und Krisen im Leben als Lernaufgabe zu begreifen. Die ist auch mir allerdings nicht geschenkt worden, ich habe sie mir über die letzten Jahre erarbeitet und darf jetzt davon profitieren.
Danke an alle, die das jetzt gelesen haben, ich grüße euch ganz herzlich! Vielleicht ist der ein oder andere Gedanke von mir auch für jemanden von euch hilfreich, das würde mich sehr freuen. Ich wünsche euch allen viel Kraft und Zuversicht auf eurem Weg!
Sabiene