Das Gebirge

  • Kennt ihr das: Man hat zu Mittag gegessen und ist ein bisschen müde und legt sich ein bisschen hin und kann den ganzen Graus für eine Viertelstunde vergessen. Dann wacht man auf, und alles stürzt wie ein Gebirge auf einen herab, auf den vom Schlaf noch Schwachen und Wehrlosen. Dann kommen die Bilder: zusammen auf einer Bank im Park, zusammen auf einer Bank am See, zusammen im Wald, zusammen am Meer, zusammen auf einer Blumenwiese, zusammen im Sonnenschein, zusammen im Regen, zusammen auf der Achterbahn, zusammen im Eiscafé, zusammen mit dem Kind, zusammen, zusammen, zusammen. Und dann windet man sich hoch und nimmt das Gebirge wieder auf die Schultern und kraucht weiter, allein, noch ein Schritt, noch ein Tag...

  • Lieber Dieter,
    das Gebirge über das Du schreibst, erlebe auch ich jeden Tag nach dem Aufwachen. Bei mir ziehen täglich 55 Jahre Erinnerungen vorbei. Wir haben, so weit das möglich war, alles miteinander gemacht.
    In den letzten Jahren, als es uns beiden nicht so gut ging, saßen wir auf vielen Bänken und ich erinnere mich an die meisten Gespräche, die Gefühle, die ich hatte und was wir sahen. Den Fluss, das Gebirge, das Spiel des Lichtes, Menschen, Blumen, den See, den Wald, die Wiesen und vieles mehr. Ich kann mir nicht vorstellen auf einer dieser Bänke oder überhaupt wo anders allein zu sitzen. Die Frage ergibt sich momentan nicht, da ich krankheitshalber schon lange ans Haus gebunden bin. Als Alfred noch lebte, war ich nicht allein, er war da.
    Jetzt bin ich immer allein, weil sich Familie, "Freunde", Bekannte, alle vertschüst haben. Keine Zeit. Für die Welt bin ich auch ich schon gestorben.
    Am Abend um 6 Uhr denke ich, Gott sei Dank, wieder ein Tag überstanden. Ich schlafe dann sehr lange, es erscheint mir wie eine Flucht.
    mefa

  • Liebe Mefa,


    du schreibst mir aus der Seele. 54 Jahre waren es bei uns. Wenigstens kannst du offenbar gut schlafen. Man muss es fertigbringen, allein zu leben; nicht jeder ist so gestrickt, dass er neue Bindungen aufbauen kann oder will. Man muss mit dem Katzenjammer leben. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich schöne Erinnerungen wegschiebe, weil ich sie nicht ertrage. Aber man wird flacher dabei. Manchmal hilft es mir, wenn ich mir sage, dass fast niemandem Trauer und Abschied erspart bleiben und nicht jeder so ein Gedöns darum macht wie ich. Es lebe die Schwarzwälderkirschtorte, heul.


    AG Dieter

  • Lieber Dieter,
    danke für Deine rasche Antwort. Ich mache für ahnungslose Mitmenschen auch ein "Gedöns". Gerade vorhin habe ich mit einer Cousine telefoniert, um mich bei ihr für eine Ansichtskarte aus Ihrem Urlaub zu bedanken. Was ich noch nie gemacht habe, ich musste das Gespräch abrechen. So viele "Ratschläge" und so viel Kritik an meiner "Negativität", konnte ich nicht mehr ertragen. Alfred sagte immer : "Ratschläge sind auch Schläge".
    Meine langjährigen Gesundheitsprobleme binden mich ans Haus. Mein Mann hat mich 9 Jahre lang unterstützt (Einkaufen, Kochen usw.). Jetzt sitze und liege ich hier im Haus herum und kann nichts tun. Oft spreche ich eine ganze Woche mit niemanden, dann versagt mir die Stimme.
    Ich denke, dass die Intensität der Trauer auch davon abhängt, wie man zusammen gelebt hat. Mit Schwerpunk auf "zusammen". Wenn jeder der Partner seinen eigenen Weg gegangen ist, ist es vielleicht leichter sich neu einzurichten.
    Alfred und ich waren im Lauf der vielen Jahre eine Einheit geworden.
    Ich stelle mir ein großen Wollknäuel vor, zusammengesetzt aus vielen Farben, die alle unsere Erlebnisse, Erfahrungen, Schönes, auch Misstöne, darstellen. Jetzt kommt jemand und teilt diesen Knäul in zwei Hälften. Die eine Hälfte fällt um und zerfällt. Die andere bleibt einsam und verlassen, ratlos stehen.


    Liebe Grüße
    Mefa

  • Sehr treffendes Bild, liebe Mefa. Lauter abgeschnittene Lebenslinien, Erinnerungen, Pläne, Träume. Da darf man "negativ" sein. Negativ heißt in diesem Zusammenhang ehrlich seine Erschütterung und Auflösung zugeben, sich nicht mit Trostpflästerchen zufriedengeben. Besser ehrlich geheult als gezwungen gelacht. Eine Wunde muss von innen heraus heilen. Wenn sie es denn tut. Ich hörte heute im Fernsehen einen ganz "banalen" Spruch, den du wahrscheinlich kennst: "Einsam ist nur, wer sich einsam fühlt". Damit kann ich etwas anfangen. Versuch, aus der Einsamkeit etwas zu machen. Ich will das nicht weiter ausführen, es könnte wieder zu "Ratschlägen" werden. Ich taste mich da auch nur langsam voran.
    LG Dieter

  • Lieber Dieter <3
    Liebe Mefa <3


    Eure Kommunikation gibt mir sehr viel und es zeigt sich wieder einmal, welch tiefer Gedankenaustausch in diesem Forum möglich sind.


    Alles Liebe und weiterhin eine aufbauende Energie euch sendend ^^


    eure Amitola

  • Hallo Dieter,
    nachdem ich in den letzten Tagen einige Verletzungen erfahren habe, werde ich mich zurückziehen, um dem zu entgehen und mich an die Einsamkeit gewöhnen (müssen).
    In meiner Jugend konnte ich nichts über mich sagen, wenn ich es doch tat, hatte ich das Gefühl etwas von mir herzugeben.
    Im Laufe der Jahre änderte sich das, ich machte die Erfahrung, dass ich, wenn ich etwas von mir hergebe, auch etwas zurückbekomme. Ich lernte viele Menschen kennen. Damit ist es jetzt vorbei. Wie Du schreibst, ich habe geglaubt, offen und ehrlich zu sagen, wie es mir geht, sei der richtige Weg. Ich schaffe es nicht vorzugeben, dass alles Bestens ist. Man würde es mir sofort anmerken und es entspricht auch nicht meiner Wesensart.
    Um weiteren Verletzungen zu entgehen, ziehe ich mich wieder auf mein früheres Verhalten zurück, was in der Folge zu größere Einsamkeit führen wird. Und wie Du schreibst, werde ich aus der Einsamkeit etwas machen müssen.
    Ich dachte oft, wenn ich einmal mehr Zeit habe, werde ich alles machen, was ich an kreativen Ideen in meinem Kopf habe. Nur jeder Kreative braucht auch ein Publikum. Als "Künstler" ist man Exhibitionist. Es fällt mir schwer, etwas anzufangen, wenn gleich die Frage "wozu" mitschwingt.
    Jetzt ist es spät geworden, ich gehe schlafen.
    Liebe Grüße
    Mefa







  • Kennt ihr das: Man hat zu Mittag gegessen und ist ein bisschen müde und legt sich ein bisschen hin und kann den ganzen Graus für eine Viertelstunde vergessen. Dann wacht man auf, und alles stürzt wie ein Gebirge auf einen herab, auf den vom Schlaf noch Schwachen und Wehrlosen. Dann kommen die Bilder: zusammen auf einer Bank im Park, zusammen auf einer Bank am See, zusammen im Wald, zusammen am Meer, zusammen auf einer Blumenwiese, zusammen im Sonnenschein, zusammen im Regen, zusammen auf der Achterbahn, zusammen im Eiscafé, zusammen mit dem Kind, zusammen, zusammen, zusammen. Und dann windet man sich hoch und nimmt das Gebirge wieder auf die Schultern und kraucht weiter, allein, noch ein Schritt, noch ein Tag...


    Lieber Dieter,
    ich und bestimmt viele können Dich gut verstehen.
    Viel viel Kraft will ich Dir schicken in der Hoffnung, daß Du wieder schöne Momente haben wirst.
    Liebe Grüße
    Josef

  • Nur jeder Kreative braucht auch ein Publikum. Als "Künstler" ist man Exhibitionist.


    Liebe Mefa, da bin ich mir nicht so sicher. Natürlich möchte man Erfolg haben. Aber ich finde, der schöpferische Moment muss frei bleiben von Zweckdenken und Ego-Streicheln, sonst nimmt er Schaden. Erstmal Stilles Kämmerlein, alles Weitere kommt dann schon. Ich habe gut reden, mir geht es ja ähnlich wie dir.
    LG Dieter

  • Lieber Dieter,
    Deine letzten Zeilen haben mich sehr beschäftigt. Ich habe versucht herauszufinden, was mich hindert, meine Ideen umzusetzen. In erster Linie mein Gesundheitszustand. Ich brauche den ganzen Tag, um die wichtigsten Dinge zu erledigen.
    Du hast schon recht, der schöpferische Moment muss freibleiben. Fürs stille Kämmerlein arbeite ich schon seit Jahren. Erfolg zu haben, wäre schon schön, aber ich bin viel zu selbstkritisch und denke immer, was ich mache ist nicht gut genug. Und meine Arbeiten bleiben in der Lade.
    Zweckdenken ist mir, glaube ich zumindest, ziemlich fremd. Wenn ich etwas produziere, sollte es zielgerichtet sein.
    Mein Mann und ich haben einige Ausstellungen gemacht. Die Vorbereitungsarbeiten waren immer spannend, befriedigend, aufregend und sehr arbeitsintensiv. Und wir waren stolz auf unsere Ergebnisse. Aber im Endeffekt waren Vernissagen oft enttäuschend, vor Allem weil sie so schnell vorbei sind und dann falle ich in ein Loch.
    Für mich ist ein Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten wichtiger und bringt auch Anregungen, oder zu erleben, wie
    sich Menschen angesprochen fühlen. Ob meine Bilder Gefühle auslösen und welche. Nicht jeder kann mit Bildern etwas anfangen und das verstehe ich auch. Mir geht es so mit Musik.
    Aber derzeit steht auch immer die Frage da "wozu?". Ich weiß, dass meine Kinder alles wegwerfen werden. Auch die vielen Aquarelle meines Mannes werden im Container landen.
    Mein Mann und ich wir haben uns immer ausgetauscht mit unseren Meinungen über unsere Arbeiten. Und das ist etwas, was mir, neben vielem anderen, sehr fehlt.
    Derzeit ist es wieder besonders schlimm, ich vermisse ihn so sehr.
    Liebe Grüße
    Mefa


  • Hmmm, ich habe früher auch viel gemalt, dann kamen Kind, Beruf, Haushalt usw. und dann hab ich mehr und mehr meine kreativen Hobbys aufgegeben. Das Malen und lange Jahre auch die Musik (Gitarre und Laute) taten mir gut , dabei ging es mir nicht ums Publikum, sondern ums Tun, den Ausdruck, den Akt des Schaffens, der etwas Konzentriertes, Beruhigendes und doch auch Befreiendes hatte. Einige Bilder gibt es noch, einige sind verpackt im Keller. Was nach mir damit geschieht, ist mir eigentlich einerlei. Die Fragen "Warum?" oder "Wozu?" waren damals ganz einfach zu beantworten: Weil es mir gut getan hat, weil es mir Spaß gemacht hat.
    AL Christine

  • Ich weiß, dass meine Kinder alles wegwerfen werden. Auch die vielen Aquarelle meines Mannes werden im Container landen.

    Liebe Mefa, kann sein, kann nicht sein. Viele bekannte Kunstwerke sind posthum seltsame Wege gegangen, bevor sie entdeckt wurden. Du hast sie zur Welt gebracht, du hast dich bemüht, sie bekannt zu machen, mehr kannst du nicht tun. Fotografieren und online stellen schon versucht?

  • Liebe Christine,
    ich verstehe, was Du meinst. Fotografie war eine Leidenschaft für mich. Ich bin Autodidaktin und habe erst sehr spät angefangen, sehr intensiv. Ich leitete einen Fotoclub. Bildete mich so weit fort, dass ich an einer Volkshochschule unterrichten konnte. Theorie, Bildgestaltung und Arbeit in der Dunkelkammer. Ich gründete eine Fotoschule, wir machten Fotospaziergänge und besprachen hinterher die Bilder. Ich bin Mitglied einer Künstlergruppe und besuchte immer wieder die angebotenen Workshops, zum Teil mit bekannten Künstlern. Im Anschluss gab es immer eine Ausstellung der erstellten Werke Ich nahm viele private Aufträge an. Bei all diesen Aktionen gab es immer Kommunikation, Anregungen, Kritiken, Feedback, auf jeden Fall menschliche Kontakte. Daher fällt mir das Arbeiten ohne Ziel, nur für die Schublade so schwer.
    Viele Liebe Grüße
    Mefa.

  • Lieber Dieter,
    Ob meine Fotos nach meinem Ableben, für Andere interessant sind, ich denke, dass ist mir nicht wichtig.
    Es gibt einige Arbeiten, die einen zeitgeschichtlichen Wert haben ( Wien zwischen 1970 - 1990, Schwarz-Weiß Bilder).
    Die Aquarelle meines Mannes zu fotografieren, ist eine Monsterarbeit. Ich kann es schon, aber derzeit nicht, viel zu anstrengend.
    Die Idee mit meinen Fotos ins Internet zu gehen, daran habe ich auch schon gedacht. Mich beschäftigt der Gedanke, eine richtige Plattform zu finden.
    Wir haben eine Galerie im Haus, dort sind die vielen Werke meines Mannes. Ich habe noch nicht Kraft, sie zu sortieren, nach gut, schlecht, unfertig usw. Mit allen sind Erinnerungen verbunden. Und da ich mit meinen Gedanken mehr in der Vergangenheit bin, ist es noch schwerer. Eine Gegenwart und eine Zukunft gibt es nicht.


    Liebe Grüße
    Mefa

  • Liebe Mefa,
    um herauszufinden, ob das Internet überhaupt ein gangbarer Weg ist, genügt es doch, mal mit ein paar Fotografien und Bildern anzufangen, vielleicht 10 oder 20 Stück. Ich bin da auch kein Experte, aber mit Bloggen oder Youtube oder sogar einer eigenen Homepage sollte es eigentlich möglich sein. Zumindest gibt es dir das Gefühl, etwas Wesentliches zu tun. Die Zukunft ist dann offen: du kannst es weiter ausbauen oder auch wieder lassen.
    Was machen die Bilder deines Mannes in der Galerie? Sind sie dort nur abgestellt?
    Noch 'ne Möglichkeit: Google: Fotografien Verlage, Fotografien Selbstverlag, Aquarelle Selbstverlag (oder Eigenverlag) usw.
    LG Dieter

  • lieber Dieter <3
    liebe mefa <3
    euch weiterhin einen GUTEN Gedankenaustausch wünschend
    und....
    NIE die Hoffnung auf ein ANDERES Leben in EIN-HEIT mit dem eigenen SELBST ...aufgebend...
    Ihr habt beide
    wundervolle Fähigkeiten in euch...


    herzlichste Grüsse euch sendend <3 <3
    eure Amitola