Liebe Teilnehmer,
ich habe gerade einen unfaßbaren Verlust erlitten. Gerade am Abend, vor dem Zubettgehen breitet sich die Angst vor der Stille der Nacht aus ... der Körper kommt zur Ruhe, das Gehirn hat Zeit zum Grübeln ... und dann kommen die Gedanken, die mich fertig machen. Ich wollte vorher noch ein bißchen was zum Thema recherchieren, und da bin ich durch Zufall auf einen Text in diesem Forum gestoßen. Da habe ich mich entschlossen, meine eigenen Sorgen/Gedanken mitzuteilen, auch wenn ich sonst noch nie in irgendwelchen Foren aktiv war.
Mein Papa hat Demenz. Aber das ist nur die Spitze des Eisberges.
Bis vor wenigen Wochen war mein Papa zwar vergeßlich und hatte hin und wieder leichte Anflüge von Verwirrtheit, aber er konnte noch immer alle wichtigen Sachen selber erledigen: sich alleine anziehen, sich waschen, rasieren, zur Toilette usw. Vor kurzem war er noch beim Arzt, und der fand, er mache einen guten und lebhaften Eindruck. Also: "Nehmen Sie weiter ihre Tabletten und wir sehen uns im nächsten Quartal wieder".
Im letzten Monat wurde er allerdings immer verwirrter: er fand sich in seinem eigenen Haus nicht mehr zurecht, meinte, Personen gesehen zu haben, die nicht da waren oder hörte Musik, wo keine war.
Was ich nicht bemerkt habe: er konnte auch nicht immer rechtzeitig zur Toilette. Meine Mutter wollte die Verschlimmerung der Erkrankung meines Vaters nicht wahrhaben und vor allem: vor mir, dem Sohn, geheimhalten. So hat sie – wie ich mir im Nachhinein zusammengereimt habe – immer hinter ihm hergeputzt, alle Spuren beseitigt und nichts davon gesagt.
Bis zum letzten Sonnabend. Papa hatte es mal wieder nicht rechtzeitig auf die Toilette geschafft und dabei das ganze Badezimmer verunreinigt. Dies war wohl der Tropfen, der das Faß zum überlaufen gebracht hat. Meine Mutter konnte einfach nicht mehr. In einer Kurzschlußhandlung nahm sie einen Strick und erhängte sich am Treppengeländer.
Ich selbst, psychisch auch nicht unbedingt stabil und deswegen sogar seit langem Frührentner, wohne im selben Haushalt. Nachdem ich also am letzten Samstag aufgewacht bin fand ich meinen Vater verwirrt auf dem Bett sitzend vor, das Badezimmer verdreckt und schließlich meine Mutter erhängt vor. ich werde dieses Bild nicht mehr los!
Dies ist der schlimmste Alptraum meines Lebens, und nicht nur der Verlust von Mama zerreißt mir förmlich das Herz, auch wird erst jetzt die volle Tragweite der Erkrankung meines Vaters sichtbar.
Der Abschied von meinem Vater hat gerade erst begonnen. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, diesen Weg mit zu gehen. Ich glaube, ich kann einfach nicht mehr!
Meine Gedanken sind momentan erfüllt von absoluter Hoffnungslosigkeit, vor Verzweiflung und auch von Schuld. Hätte Mama mir nicht sagen können, daß sie es einfach nicht mehr schafft? Hätte ich selber nicht etwas merken müssen?
Ich bin dankbar, daß ich meine Gedanken hier aufschreiben durfte.
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– STUNDEN SPÄTER –
Ich habe heute die erste Nacht seit den Vorfällen am 29.12. wieder im Haus meiner Eltern verbracht – ich habe die letzten vier Nächte in einem Hotel/einer Pension übernachtet. Ich habe diese erste Nacht hier (allein!) überstanden.
Am Tag, als es passierte, ging alles so schnell, ich stand unter Schock und konnte gar nicht reagieren. Das Haus wimmelte von Sanitätern, Polizei, Amtsarzt, Seelsorgerin und was-weiß-ich-wem, aber wirkliche Hilfe habe ich nicht erfahren. Die Polizei hat eigentlich nur die Sache an sich zu Protokoll genommen und das war's. Die Sanitäter wollten mich unbedingt "zu meiner eigenen Sicherheit" in eine psychiatrische Notaufnahme bringen, weil sie fürchteten, ich würde mir etwas antun.
Nun muß man wissen, daß ich aufgrund einer Zwangserkrankung und AD(H)S im Laufe meines Lebens schon öfter Erfahrungen mit derartigen Einrichtungen gesammelt habe. Ich wurde 2005 schon einmal während eines Unglücksfalls auf einer psychiatrischen Notfallstation aufgenommen.
Der Sanitäter versicherte mir, "das war 2005, wir haben jetzt 2018, und inzwischen hat sich da viel getan". Ich fühlte mich in die Enge gedrängt, habe ihm gesagt, daß ich auf freiwilliger Basis mitkäme, mit der Option, jederzeit wieder gehen zu können, wenn ich dort keine Hilfe bekomme.
Okay, es war so: der Rettungswagen brachte mich in die Notaufnahme, dort wurde ich erstmal untersucht, der Fall wurde durchgesprochen und dann wurde ich einem Zimmer auf der Station zugeteilt. DAS WAR ALLES! Oder vielmehr, das war der Beginn eines weiteren Alptraumes innerhalb meines Alptraumes.
Die Station (abgeschlossen natürlich) besteht aus langen Fluren, auf denen Menschen mit allen möglichen Erkrankungen umherschlurfen. Psychotiker, Schizophrene, Depressive, was-weiß-ich. Allein dieser Anblick, diese Atmosphäre kann selbst einen stabilen, gesunden Menschen fertigmachen. Die Patienten laufen umher, vom Pflegepersonal ist niemand zu sehen. Einige klopfen an die Tür des Stationszimmers, wollen irgendjemand sprechen. Sie werden vertröstet, "Dr. Sowieso hat gerade zu tun, bitte haben Sie etwas Geduld". Es sind Feiertage, es ist nur eine Ärztin für das ganze Krankenhaus da, und die Pfleger verschanzen sich im Stationszimmer und halten Besprechungen ab. ES HAT WIRKLICH NIEMAND MIT MIR GEREDET (und auch nicht mit den anderen hilfesuchenden Patienten). Mein einziger Vorteil: ich hatte ja das Recht, mich wieder eigenmächtig zu entlassen.
Dann mußte ich noch eine Stunde auf die Ärztin warten, bis die Zeit für mich hatte. Dann wollte diese sich mit dem Oberarzt besprechen, was wieder endlos dauerte. Anschließend hat sie mir gesagt, ja, ich dürfe denn gehen, wenn ich glaubhaft versichern würde, mir selbst nichts anzutun. Okay, sie hat mir dann geglaubt, ich mußte wieder eine Stunde warten, bis sie den Arztbrief/Entlassungsschein ausgestellt hat. Dann durfte ich ENDLICH vor die Tür und mußte NOCH EINE STUNDE auf das Taxi warten, das mich nach Hause bringt.
Fazit: ES GIBT KEINE HILFE IN NOTSITUATIONEN. Es gibt nur die Auswahl: endweder Unterbringung in der psychiatrischen Notfallambulanz (die Hölle) oder Unterbringung in der psychiatrischen Notfallambulanz RUHIGGESTELLT MIT MEDIKAMENTEN (Hölle hoch zwei). Da ziehe ich die Freiheit vor, und wenn ich unter einer Brücke schlafen muß.
Ich habe meine erste Nacht in einem Hotelzimmer verbracht, dann die nächsten drei Nächte in einer Pension, die einem entfernten Bekannten gehört. Schlimm natürlich auch der Umstand, daß gerade Sylvester/Neujahr war, d. h. es war NIEMAND zu erreichen, es gab keinerlei Hilfe, die Welt schien nur aus Berlinern und Böllern und feiernden Menschen zu bestehen.
Nun bin ich wieder zu Hause. Aufgrund meiner persönlichen Vorgeschichte (Zwangserkrankung etc.) ist es mir absolut unmöglich, die Verschmutzungen, die mein Vater angerichtet hat, zu beseitigen. Reinigungsunternehmen sind nicht zu erreichen oder überlastet. Gestern habe ich Hilfe von der Raumpflegerin meiner Tante erhalten: sie hat mit mir zumindest Wohnzimmer, Küche und Flur durchgewischt, so daß ich zumindest in diese Räume wieder hineingehen kann. Das bedeutet, ich habe wieder Zugriff auf den Wohnraum, in dem ich auch schlafen kann, eine Küche, eine Toilette und eine Dusche.
Die Verschmutzungen im anderen Bad und im Elternschlafzimmer sind allerdings für eine "normale" Reinigungskraft zu stark, da müssen Spezialisten ran.
Das ist jetzt das nächste, das ich organisieren muß.
Was mir am meisten fehlt, ist eine organisatorische Hilfe. Eigentlich und von Rechts wegen hätte ich aufgrund meiner Vorerkrankung sogar Anspruch auf eine Hilfe für den Alltag (hatte ich sogar früher einmal, aber das Verhältnis zu der Betreuerin hatte sich aus verschiedenen Gründen getrübt und so ist die ganze Sache letztendlich abgebrochen worden).
Ja, und nun sitze ich da, versuche zu organisieren, recherchieren, telefonieren ... und habe weder Zeit für Trauer noch für andere eigene Belange.
Keine Ahnung, wie ich das durchhalten soll. Aber es ist immer noch besser, als in dieser schrecklichen Psychiatrie, wo ich GAR NICHTS organisieren kann, sondern dazu verdammt bin, untätig herumzulaufen (oder unter Medikamenteneinfluß vor mich hin zu dämmern).
Bitte verzeiht mir Schreib- oder Formulierungsfehler, ich bin sonst immer sehr pingelig, was Orthographie angeht, aber ich habe im Moment wirklich nicht die Kraft, dies alles nochmal korrekturzulesen.
Herzliche Grüße an alle, die dies hier lesen.
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– WIEDER EIN PAAR STUNDEN SPÄTER –
Es ist dunkel, es naht die zweite Nacht allein in meinem Elternshaus. Heute war ich von morgens bis abends so beschäftigt, daß ich weder Zeit zum Weinen oder überhaupt nachdenken hatte.
Ich denke, ich werde auch diese zweite Nacht überstehen; morgen wird wieder ein unheimlich voller Tag (Termin beim Amtsgericht, Termin beim Sozialdienst der Klinik, in der mein Vater jetzt ist, Besuch bei der Krankenkasse usw.). Insofern werde ich wohl auch morgen nicht zum Grübeln kommen ... viel mehr habe ich vor dem verdammten Wochenende Angst. Keine Termine, keine Möglichkeit, etwas zu organisieren, statt dessen Ruhe und somit jede Menge Zeit für Gedanken, die kommen können.
Ich wünsche Euch allen, die Ihr dies hier lest, eine gute Nacht.