Wechsel der Jahreszeiten

  • Abschied vom Ausblick


    Ich verzeihe dem Frühling,

    daß er wieder kam.

    Ich zürne ihm nicht,

    daß er wie alle Jahre

    seine Pflicht tut.


    Ich weiß, meine Trauer

    hält das Grün nicht auf.

    Und bebt ein Halm,

    so ist es der Wind.


    Es tut mir nicht weh,

    daß die Erlen am Wasser

    etwas zu rauschen haben.


    Ich nehme zur Kenntnis,

    daß das Ufer des Sees

    - als lebtest du noch-

    so schön ist, wie's war.


    Dem Ausblick bin ich nicht gram

    wegen der Sicht

    auf die Sonnenbucht.


    Ich kann mir auch vorstellen,

    daß zwei, nicht wir,

    in diesem Augenblick

    auf dem Birkenstamm sitzen.


    Ich achte ihr Recht

    auf Geflüster, auf Lachen

    und glückliches Schweigen.


    Ich nehm sogar an,

    daß sie Liebe verbindet

    und daß er sie umarmt

    mit zitterndem Arm.


    Etwas Neues, Vogelhaftes

    raschelt im Schilf.

    Ich wünsch ihnen ehrlich,

    daß sie es hören.


    Ich verlang keinen Wandel

    von den Wellen am Ufer,

    die mal flink sind, mal träge

    und mir nicht gehorchen.


    Ich verlange nichts

    von der Flut hinterm Wald,

    mal smaragden,

    mal saphiren,

    dann wieder schwarz.


    Nur eins kann ich nicht.

    Dorthin zurück

    Privileg des Dortseins -

    Ich verzchte darauf.


    Nur um so viel, nur so weit

    hab ich Dich überlebt;

    um aus der Ferne zu denken.


    WISLAWA SZYMBORSKA

  • Wunderschön. Ich fühle jedes einzelne Wort.

    Unsere Toten sind nicht abwesend nur unsichtbar,

    sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer.

    Es gibt ein Wiedersehen auf einer anderen Ebene.

    Und die Seelen unserer Vorausgegangenen begleiten uns

    Aurelius Augustinus

  • Es wird nicht besser. Dieser sichtbare, fühlbare, riechbare Wechsel in eine neue Jahreszeit tut noch immer weh.

    Ich sehe draußen vor dem Fenster mit der wunderschönen Aussicht frostweiße Dächer, qualmende Heizungsschlote, einen rosa Lichtstreif am südlichen Horizont. Es wird Winter. Wieder ein Winter ohne mein Mädchen. Es ist jedes Mal ein Kraftakt, mich an die neue Jahreszeit zu gewöhnen. Es tut so weh.

    Warum mich das so sehr mitnimmt weiß ich gar nicht so genau. Vielleicht weil ich gerade diesen Wechsel früher sehr gemocht habe. Aber das allein kann es nicht sein. Es ist auch nicht die Zeit, die vergeht. Denn die spüre ich kaum. Und freue mich eher, wenn ich bemerke, dass sie fließt. Vielleicht weiß ich irgendwo in mir, dass man "dort" keine Jahreszeiten mehr hat. Der Gedanke macht mich nicht wirklich traurig. Das Gefühl schon. Keine Ahnung.

    Kommt alle gut durch die frostigen Tage.

    Unsere Toten sind nicht abwesend nur unsichtbar,

    sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer.

    Es gibt ein Wiedersehen auf einer anderen Ebene.

    Und die Seelen unserer Vorausgegangenen begleiten uns

    Aurelius Augustinus

  • Ich verbinde diese Jahreszeit mit der letzten Etappe auf Ursels Leidensweg. Vor allem die Erinnerung an die immer stärker werdenden Auswirkungen ihres Delirs in der Geriatrie verstärken meine Traurigkeit. 6 verschiedene Stationen in 7 Monaten verkraftete ihr Gehirn nicht wirklich. Zuletzt noch eine Gehirnerschütterung bei einem Sturz aus einem angeblich gesicherten Bett in der Nacht, als sie nach mir suchte und rief. Ich konnte ja nicht da sein, und trotzdem habe ich Schuldgefühle. Das verbinde ich mit dem beginnenden Winter.

  • Lieber Dieter,


    dass die Jahreszeit für dich solche "Erinnerungen" (in Anführungszeichen, weil ich finde, dass es mehr ist. Vor allem aus emotionaler Sicht) mit sich bringt, ist so sehr verständlich und tut mir unglaublich leid.
    Das hört sich alles so unausweichlich an, aber irgendwie eben nicht unvermeidbar. Eine einmal losgetretene Lawine, die dann in dem Erdrutsch endete - selten ist der Begriff passender.
    Die Lawine mag vermeidbar gewesen sein, aber einmal losgetreten unaufhaltbar. So verdammt unfair, unfair, unfair.
    Natürlich hast du diese Schuldgefühle. Sie sind aber anders, als sich schuldig fühlen. Sollten sie zumindest sein.
    Du wärest so gerne für sie da gewesen. Aber es ist nicht deine Schuld, dass du es nicht konntest. Ändert aber nichts an den Emotionen. Zu wissen, dass der geliebte Mensch nach einem gerufen hat.
    Aber, und da bin ich mir so sicher wir nur irgendwas: Sie lächelt jetzt vermutlich in Gedanken daran. Denn sie weiß, dass du immer, immer, immer - auch jetzt noch - spürst, wenn sie dich "sucht", sprich dich "berührt", Kontakt aufnimmt, ach blöd, ich finde kaum Worte dafür. Das passt alles nicht so wirklich schön.
    Reach out ...
    Nein, sie weiß, dass du da warst für sie. Nur nicht physisch. So, wie es jetzt umgekehrt ist.

    Ich wünsche dir, dass du bestmöglich durch den Winter kommst, Wärme erfahren wirst, durch die Eichhörnchen und auch durch Ursel. Immer auch durch Ursel. ✨💖




  • Liebe Elster,


    Wenn ich sage, ich finde keine Worte, würde aber gerne etwas sagen, dann stimmt das mal so gar nicht. Denn eigentlich bräuchte ich nur deinen gesamten Beitrag nehmen und darunter schreiben "this!".

    Mein "ich verstehe dich" ist in diesem Falls sehr, sehr wörtlich zu nehmen.

    Eine eigentlich geliebte Zeit ... und dann dieses Nie Wieder auf einer so absolut absoluten Ebene.
    Denn hier geht es nicht darum, dass wir hier etwas nie wieder gemeinsam mit unserem Liebsten, das uns genommen wurde, erleben. Davon gibt es eh genug.
    Sondern dieses Gefühl, dass es auch "dort" nicht mehr erlebbar sein wird.
    Das macht es hier umso schwerer.

    Aber ganz ehrlich? Ja, da kommt die Pipi Langstrumpf in mir wieder durch: Genau wie du bin ich mir sicher, dass es "dort" gibt. Wie es dort aussieht, können wir nicht sagen. Oder vielleicht können es einige doch.
    Ich kann es nicht und bin eigentlich ganz froh darum. Denn das lässt mir meinen wunderbaren Wunschgedanken an das "Holodeck". Dieser Gedanke, dass wenn es Thomas und mich nach einer Schneeballschlacht, oder einem Spaziergang im eisigen Schnee, oder eine Bootsfahrt auf dem Loch Lomond, im klirrenden Winter, alle unter Deck, nur wir beiden die gesamte Zeit draußen, vorne, so nah am Bug wie möglich, dass wir das dann einfach "geschehen lassen können".
    Nun, und wenn ich mich irre und es dieses Holodeck nicht gibt und es ganz anders ist, dann werde ich es wohl dann auch nicht vermissen. Also den Winter.
    Okay, etwas verworren ausgedrückt, aber ich denke, du weißt, was ich meine.

  • Ihr Lieben,


    Was mich angeht, so bin ich grad selbst ein wenig verwundert, dass es für mich dieses Jahr schwerer scheint, als die letzten beiden Winter


    Thomas ist ja im November gegangen, vor zwei Jahren. Also quasi an der Schwelle zum Winter. Herbst und Winter, beides tolle Jahreszeiten, finde ich. fanden wir beide.
    Die Weihnachtszeit, einfach wunderbar. Im ersten Jahr kein Problem. Also was auch immer "kein Problem" für unsere geschundenen Seelen heißen mag.
    Es ist nicht das gleiche "kein Problem" wie es Menschen kennen, die niemanden so sehr geliebten verloren haben.
    Im zweiten Jahr noch weniger ein Problem.


    Jetzt ... ich habe das Gefühl, sehr, sehr verletzlich zu sein. Aber für was? Also was kann mich wo und wie und wann verletzen? Es ist absolut nicht vorhersehbar. Trigger, mit denen ich nie gerechnet hätte. Latente Tränen, die ich längst versiegt glaubte.

    Und dieses vermalledeite, sehr, sehr irdische Nie Wieder.
    Der Trotz, dieses mit dem Fuß aufstampfen und laut herausfordernd rufend "ich will das nicht!". Und die Hilflosigkeit, die das Wissen, dass dieses "ich will das nicht" mal so gar niemanden interessiert, mit sich bringt.

    Merkwürdig, aber genau diese Empfindungen sind für mich grad eng mit dem beginnenden Winter verbunden. Und auch da mag ich wieder schreien "ich will das nicht!". Ich will den Winter weiter gern haben. Ich will, dass die Erinnerungen mich wärmen, so wie in den letzten beiden Jahren auch.
    Ich nehme von Herzen gerne das Bittersüß in Kauf. Aber ich möchte nicht, dass das Lächeln gefriert. Denn das hat es in den letzten beiden Wintern doch auch nicht getan ...

  • Jetzt ... ich habe das Gefühl, sehr, sehr verletzlich zu sein. Aber für was? Also was kann mich wo und wie und wann verletzen? Es ist absolut nicht vorhersehbar. Trigger, mit denen ich nie gerechnet hätte. Latente Tränen, die ich längst versiegt glaubte.

    Es gibt keine lineare Trauer. Höchstens vereinzelt. Die unerwarteten Trigger kamen bei mir auch erst später. Es hat sich ein wenig beruhigt. Bzw. reagiere ich nicht mehr sofort auf Trigger, die auf den ersten Blick nichts mit uns zu tun haben. Aber das Unterbewusstsein, die Seele, der innere Mensch, der wir alle eben auch sind, der nimmt alles wahr und verstaut es irgendwo. Und von dort arbeitet es sich irgendwann nach oben. Wir haben da nicht viel Kontrolle drüber. Wenn jemand weiß, wie man diese Vorgänge kontrolliert: bitte umgehend bei mir melden!



    Aber ich möchte nicht, dass das Lächeln gefriert.

    Für mich ist es zu spät. Für dich hoffe ich, dass du es umgehst.


    ....als sie nach mir suchte und rief. Ich konnte ja nicht da sein, und trotzdem habe ich Schuldgefühle. Das verbinde ich mit dem beginnenden Winter.

    Es ist egal, wieviel wir für sie getan haben. Ich für Feechen, du für Ursel. Nach unserem Verständnis war es nicht genug, denn sie sind gestorben. Das werden wir nun tragen. Und inzwischen überwiegt an vielen Tagen für mich das Gefühl der unendlichen Liebe. Es verdrängt das Böse oft. Aber weg geht es vielleicht nie. Ich weiß es nicht....

    Unsere Toten sind nicht abwesend nur unsichtbar,

    sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer.

    Es gibt ein Wiedersehen auf einer anderen Ebene.

    Und die Seelen unserer Vorausgegangenen begleiten uns

    Aurelius Augustinus