Liebe Nora,
Ähnlich wie Pia habe ich deine Zeilen zu den letzten Tagen mit angehaltenem Atem gelesen.
Einerseits ein "ganz normales Problem am Arbeitsplatz", das schon unter "normalen" Umständen viel, viel Kraft kostet. Und auf der anderen Seite die absolute Ausnahmesituation.
Wenn diese beiden Dinge aufeinanderprallen, dann ist das logisch, dass das hochexplosiv ist.
Ich kann dich gut verstehen, dass dir der Kragen geplatzt ist und finde es gut und richtig, dass du aufbegehrt hast.
Vermutlich zum allerersten Mal bei dieser Arbeitsstelle. Das kommt für das Gegenüber dann wie ein unvorhersehbarer Vulkanausbruch an, mit dem er weder gerechnet hat, noch klar kommt.
Zudem war natürlich der Zeitpunkt auf seiner und nicht auf deiner Seite. Da das Wochenende dazwischen lag, hattest du viele bange Stunden, während er Zeit hatte, sich einerseits hineinzusteigern und andererseits Rechtfertigungen und "Argumente" zu finden.
Unfair, dass er das so ausnutzt, denn wenn du so emotional geschrieben hast, muss er deine Aufgewühltheit ja deutlich gespürt haben.
Er hätte dich beruhigen sollen. Nicht einfach "wir reden am Montag", sondern "wir reden am Montag in Ruhe und finden gemeinsame eine Lösung".
Aber Softskills sind leider nicht jedermanns Sache, auch nicht in Positionen, wo sie bitter nötig wären.
Herzschmerz und Ron geben viele gute Tipps und ich möchte noch ein paar Anregungen hinzufügen:
Eine vernünftige Diskussionskultur gibt es schon seit langem nicht mehr, meinem Empfinden nach. Wenn man jemanden (vermeintlich) angreift - und manche werten bereits ein "ich sehe das anders" als Angriff ... - kommt direkt ein Kontra mit sämtlichen Waffen entsichert und im Anschlag.
Aber es hilft, wenn man selber das Ruder in der Hand behält. Den Ton angibt, bzw. vorgibt und den Zeitpunkt.
Ich finde es gut, wenn du dir ein paar Tage Zeit nehmen wirst. Auch dir schon mal Lösungsvorschläge zu überlegen.
Aber mein ganz großer Tipp ist, transparent zu sein. Transparent und professionell.
Drohe nicht mit dem Betriebsrat, sondern verkaufe es als Vorschlag. Nach dem Motto: "Ich habe mir überlegt, es könnte für uns alle eine tolle Diskussionsgrundlage sein, wenn ich vorab mit dem Betriebsrat über ein paar Lösungsansätze rede."
Oder "was hältst du davon, wenn ich tatsächlich erst mal mit dem Betriebsrat spreche; die können bestimmt gut einschätzen, was getan werden kann, damit all unsere Bedürfnisse beachtet werden, ohne dass die Arbeit drunter leidet". Das aber natürlich so vermitteln, dass er nicht sagen kann "da halte ich gar nichts von".
Es ist einfach in solchen Situationen wichtig, nicht mit Beschuldigungen, Schuldzuweisungen, Vorwürfen und Drohungen zu kommen.
Erkläre dich auch ruhig - wenn es für dich passt auch entschuldigend - aber niemals rechtfertigend oder unterwürfig.
Erkläre, dass du dich in einer Situation befindest, die wohl keiner nachfühlen kann, der es nicht selbst erlebt hat und dass du das auch keinem wünschst. Erkläre, dass du dadurch vielleicht dünnhäutiger bist und andere Bedürfnisse entwickelt hast, aber dass das nichts mit deiner Arbeit und der Qualität deiner Arbeit zu tun hat. Lediglich mit dem Umgang mit dir. Bitte da offen um Verständnis, aber bettele nicht darum.
Und - ganz ehrlich - wenn das schon so ist in eurem Betrieb, dass sich da mit allen möglichen sozialen Programmen gebrüstet wird, und Mental Health (eigentlich sehr, sehr löblich, wenn das nicht nur Lippenbekenntnisse sind) ein Thema ist, dann nutze das. Wende die Waffen gegen sie, denn sie schreien danach.
Das, was du beschreibst, hört sich verdammt so an, als sei es einem Burnout gar nicht mal so fern oder unähnlich. Egal, ob das durch die Trauer potenziert wird oder nicht. Wenn also Burnout-Früherkennung ein Thema bei euch ist und es WIRKLICH ernst und wichtig genommen wird, dann berufe dich genau darauf. Aber frage, schlage vor, fordere nicht.
Ähnlich ist es mit Mobbing. Sag deinem Chef ruhig: "Als du mir vorgeworfen hast, ich sei nur neidisch, dachte ich einen Moment, du steckst mich in die Schublade von Leuten, die andere mobben. Dabei fühle ich mich eher selbst manchmal gemobbt, aber ich weiß natürlich, dass das Quatsch ist. Hoffe ich zumindest."
Durch solche Dinge solltest du deinen Chef zum Nachdenken bringen und eher in einen vernünftigen Dialog ziehen, als mit Vorwürfen.
Sag ihm auch das ruhig. Sag ihm, dass du vielleicht emotional ein wenig über die Stränge geschlagen hast und es dir leid tut, aber dass du einfach so wütend warst und es ehrlich gesagt auch immer noch bist. Erklärend, nicht rechtfertigend.
Hehe, das soll jetzt kein Skript für eine Unterredung mit dem Chef oder dem Betriebsrat sein. Die Beispielssätze habe ich lediglich eingefügt, damit du die Richtung verstehst, die ich meine. Die Wortwahl, das gesamte "Wie" muss von dir kommen. Authentisch ist hier ebenso wichtig wie ehrlich, transparent und konstruktiv, statt destruktiv.
Wie gesagt: Eine gute Idee, dass du ein paar Tage warten und dich sammeln möchtest. Schreibe dir in der Zeit einfach alles auf, was dir zu dem Thema einfällt. Situationen, Beschreibung des Missstandes, deine Gefühle dabei, Verhalten der Kollegen und Kolleginnen, deine Ängste, Vorschläge zur Verbesserung, einfach alles. Strukturiere das dann und lege dir einen "Schlachtplan" zurecht. Denn ... Wie ich sagte: Es ist wichtig, dass du das Ruder in der Hand hast, Ton und am besten auch Zeit vorgibst.
Ich drücke dir ganz doll die Daumen, dass sich die Arbeitssituation für dich sehr bald bessern wird und dass es dich nicht übermenschlich viel Kraft kostet, dafür zu "kämpfen".
Fühl dich ganz lieb umarmt und tief verstanden, auch wenn ich hier vielleicht auch ein wenig Arbeitgebersicht einfließen lassen habe ✨💖