Liebe Sveti
Ich verstehe dich so gut. Und du hast beide Eltern schon verloren. Da muss das Gefühl der Einsamkeit und des Sich-Verloren-Fühlens bestimmt noch viel stärker sein als bei mir. Und das Gedankenkarussell dreht ohne Ende einfach immer weiter.
Ich fühle mich sehr allein ohne meinen Vater, ohne seinen Rückhalt, ohne seine Lebenserfahrung, einfach ohne ihn. Er gab meinem Leben Stabilität und Sinn, ohne dass mir das bewusst war. Er war ja immer da, gleich nebenan, immer präsent, hatte Zeit und ein offenes Ohr und war immer bereit zu helfen, so gut er es vermochte. Für mich war das einfach normal, ich habe nicht einmal mehr darüber nachgedacht, wie gut ich es hatte. Ich war manchmal sogar genervt wegen Kleinigkeiten, wegen unwichtiger Marotten, die er natürlich auch hatte. Jetzt, wo er tot ist, erkenne ich glasklar, was ich verloren habe, und wie kindisch und kleinlich ich manchmal gedacht und gehandelt habe. Ich habe bei jemandem hier im Forum einen Spruch gelesen, der sich mir eingeprägt hat, weil er genau dies zum Ausdruck bringt. Ich finde ihn leider grad nicht mehr zum Zitieren, deshalb hier aus dem Kopf:
Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schliessen, aber es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.
Ja, und jetzt ist es zu spät, mein Vater ist tot. Jetzt, wo ich endlich verstanden hätte, kann ich mein neu gewonnenes Bewusstsein nicht leben, es läuft ins Leere, und es bleibt mir nur übrig, seine Seele um Verzeihung zu bitten, was ich auch sehr oft tue. Und ich bin sogar sicher, dass er mir schon längst vergeben hat, und doch quälen mich immer noch grosse Schuldgefühle. Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, dass ich die Zeit, die ich noch hatte mit ihm, nicht mehr wertgeschätzt habe. Dass ich nicht dankbarer war. Dass ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht habe.
Aber ich habe noch meine Mutter, und auch sie liebe ich über alles und bin sehr, sehr dankbar, dass sie noch hier ist. Und ich bin wirklich wie geläutert. Dinge, die mich früher an ihr genervt haben, regen mich gar nicht mehr auf, im Gegenteil, ich kann sie liebevoll als einen Teil von ihr annehmen, es gehört zu ihr, so ist sie im Lauf ihres Lebens geworden und so liebe ich sie, und sie hat ihre Gründe dafür. Ich bin so froh, dass sie noch lebt und für uns da ist, da ist alles andere unwichtig. Das empfinde aber überhaupt nicht als eine Leistung meinerseits, ich muss mich da auch gar nicht anstrengen, das ist eine Art Nebenprodukt meiner Trauer.
Leider habe ich gestern Nacht nicht von meinem Vater geträumt. So gerne würde ich ihn wieder einmal sehen, wie er sich bewegt, wie er mir etwas sagt. Videos von ihm gibt es keine, nur das eine, wo er die Hochzeitsrede von meinem Bruder hält vor zwei Jahren. Und das kann ich nicht anschauen, ich schaffe es nicht. Das würde mich überwältigen vor Trauer, dem fühle ich mich nicht gewachsen. Aber im Traum geht es. Da kann ich ihm begegnen. Im normalen Leben ist es nie mehr möglich. NIE MEHR, NIE MEHR, nie mehr. Das ist so schrecklich, so grausam. Nicht ein einziges Mal noch in die lieben Augen sehen, es ist einfach vorbei. Und ich hab gedacht, er wäre noch viele, viele Jahre da, und ich hätte noch ganz viel Zeit, und er könnte sehen, wie meine Tochter aufwächst und sich mit mir freuen. Ich hab gedacht, er würde irgendwann in seinen Neunzigern friedlich einschlafen. Ja, das hab ich geglaubt, wie naiv. Kein Wunder, kann mein Gehirn mit der Realität nicht umgehen, es ist einfach zu weit weg von dem, wovon ich ausgegangen bin.
Habt eine ruhige Nacht, ihr Lieben.