Wenig Trauer in der Literatur ...
"Dieses erste Jahr der Trauer hat eine merkwürdige Kadenz:
Man lebt in der Vergangenheit, muss den Tod des Geliebten wieder erleben.
Das macht das erste Jahr so schrecklich.
Weil viele Schriftsteller diese erste Phase irgendwie überleben, ohne zu schreiben,
gibt es kaum Informationen." (Connie Palmen)
Niobes Trauerbibliothek 1-4
1.
Julian BARNES, Lebensstufen
"Und wie fühlt man sich so?
Als wäre man aus ein paar Hundert Metern Höhe abgestürzt, bei vollem Bewusstsein, wäre mit den Füßen voran mit solcher Wucht in einem Rosenbeet gelandet, dass man bis zu den Knien darin versank, und beim Aufprall wären die Eingeweide zerrissen und aus dem Körper herausgeplatzt.
So fühlt sich das an, und warum sollte es irgendwie anders aussehen?"
"Man fragt sich:
Bis zu welchem Grad ist es in diesem Aufruhr des Verlusts sie, die mir fehlt, oder unser gemeinsames Leben oder das an ihr, was mich mehr zu mir selbst werden ließ, oder fehlt mir einfach die Gemeinschaft oder (nicht ganz so einfach) die Liebe oder alles zusammen oder sich überlappende Teile von allem?
Man fragt sich:
Welches Glück liegt in der bloßen Erinnerung an das Glück? Und wie kann das überhaupt funktionieren, da das Glück doch immer nur darin besteht und bestanden hat, etwas zu teilen?
Einsames Glück –
das klingt wie ein Widerspruch in sich, ein unglaubwürdiger Apparat, der sich nie vom Boden erheben wird.
Die Frage des Selbstmords stellt sich früh und vollkommen logisch"
"Die Leute sagen, du wirst darüber hinwegkommen. … Und es stimmt, man kommt darüber hinweg. …
Aber man kommt nicht so darüber hinweg wie ein Zug über die Downs: raus aus dem Tunnel, hinein in den Sonnenschein …
man kommt heraus wie eine Möve aus einer Öllache. Man ist geteert und gefedert fürs Leben"
2.
Roland BARTHES, Tagebuch der Trauer
"Das Unabänderliche ist es, das mich zerreißt ..."
"Trauer ist etwas ganz anderes als eine Krankheit.
Wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren?"
"Manchmal … überfällt mich der flüchtige Gedanke sozusagen wie ein Blitz, dass Mam. für immer nicht mehr da ist;
eine Art schwarzer Schwinge (des Endgültigen) huscht über mich und nimmt mir den Atem;
ein so heftiger Schmerz, dass ich, man könnte sagen: um zu überleben, gleich zu etwas anderem abschweife"
"Ich sehe die Schwalben am sommerlichen Abendhimmel. Ich sage mir - und der Gedanke an Mam. zrreißt mich -, wie barbarisch, nicht an Seelen zu glauben - an die Unsterblichkeit der Seelen! was für eine dumme Wahrheit der Materialismus doch ist"
"Ich leide an Mam.s Tod."
3.
Joan Didion, Das Jahr magischen Denkens
"Leid, so stellt sich heraus, ist ein Ort, den von uns niemand kennt, solange wir nicht dort sind. Wir ahnen (wir wissen): Jemand, der uns nah ist, könnte sterben, aber wir gucken nicht über den Rand der wenigen Tage oder Wochen hinaus, die diesem eingebildeten Tod folgen. Wir mißverstehen sogar, was diese wenigen Tage oder Wochen bedeuten. Wir mögen damit rechnen, schokkiert zu sein, sollte der Tod plötzlich eintreten. Aber wir rechnen nicht damit, daß dieser Schock uns auslöscht, Körper und Seele tilgt. … Wir stellen uns vor, daß der Moment, in dem wir am stärksten geprüft werden, die Beerdigung sein wird, danach setzt der hypothetische Heilungsprozeß ein. … Wir können unmöglich wissen, dass das nicht das Problem sein wird."
"Mir wurde klar, dass ich seit dem letzten Morgen des Jahres 2003, dem Morgen, nachdem John gestorben war, versucht hatte, die Zeit umzukehren, den Film rückwärts laufen zu lassen. Das war jetzt, am 30. August 2004, acht Monate her, und ich versuchte es immer noch....
„Ihn zurückzubringen“ war während all dieser Monate insgeheim mein Ziel gewesen, ein magischer Trick. Im Spätsommer fing ich an, das deutlich zu sehen.
„Es deutlich zu sehen“ erlaubte mir immer noch nicht, die Sachen wegzugeben, die er brauchen würde."
"wenn wir um das trauern, was wir verloren haben, [trauern] wir auch um uns selbst … . Um uns, wie wir waren. Um uns, wie wir nicht länger sind"
4.
C.S. Lewis Über die Trauer
"Man sagt mir: »Sie fährt fort zu sein.« Aber ich schreie mit Herz und Leib: »Komm wieder, komm zurück. Sei ein Kreis, der meinen Kreis auf der Ebene der Natur berührt. « Doch ich weiß, das ist unmöglich. Ich weiß, was ich begehre, ist genau das, was ich nie bekommen kann. Das frühere Leben, die Scherze, die Schlummerbecher, die Streitgespräche, das Lieben, die winzigen, herzzerbrechenden Gemeinplätze. Wie man es auch ansieht: »H. ist tot« heißt eben: »All das ist vorbei.« Es gehört der Vergangenheit an. Und was vergangen ist, ist vergangen, und nichts anderes bedeutet Zeit, und Zeit ist nur ein anderer Name für den Tod, und selbst der Himmel ist ein Zustand, wo alles Frühere vorüber ist"
"Die Zeiten, wo ich nicht an sie denke, sind für mich vielleicht die schlimmsten. Denn wenn ich auch den Grund vergessen habe, liegt dann doch über allem ein vages Gefühl der Unstimmigkeit, als sei etwas nicht in Ordnung. ... Ich sehe, wie sich die Beeren der Eberesche röten, und verstehe im Augenblick nicht, warum ausgerechnet sie mich bedrücken. Ich höre eine Uhr schlagen, und irgend etwas, was dem Klang bisher immer eigen war, fehlt. Was ist los mit der Welt, was macht sie so flach, so schäbig und so zerschlissen? Dann fällt es mir ein."
"Davor, unter anderem, fürchte ich mich. Die Qualen, die wilden Augenblicke um Mitternacht müssen gemäß dem Gang der Natur abflauen. Was aber folgt? Einfach diese Apathie, diese fühllose Stumpfheit? Wird eine Zeit kommen, wo ich gar nicht mehr frage, warum die Welt einer ärmlichen Straße gleicht, weil ich das Elend als normal hinnehme?"
"Nach einer Blinddarmoperation besagt der Satz: »Der Patient hat es überstanden« etwas anderes als nach einer Beinamputation. Nach diesem Eingriff heilt der Stumpf, oder der Mensch stirbt. Heilt er, so hört der wilde, ständige Schmerz auf. Nach einiger Zeit gewinnt der Operierte seine Kraft zurück und ist imstande, auf seinem Holzbein umherzuhumpeln. Er »hat es überstanden«. Aber wahrscheinlich wird er in dem Stumpf zeitlebens von Zeit zu Zeit Schmerzen haben, und zwar vielleicht ziemlich heftige; und er wird stets einbeinig bleiben. Er wird es kaum einen Augenblick vergessen. Das Baden, Sich-Ankleiden, Sich-Setzen und Wieder-Aufstehen, sogar das Im-Bett-Liegen werden nie mehr das gleiche sein. Seine ganze Lebensweise wird sich geändert haben. Allerhand Vergnügen und Betätigungen, die ihm selbstverständlich waren, muss er einfach abschreiben. Auch Pflichten. Zur Zeit lerne ich, mich mit Krücken fortzubewegen. Vielleicht bekomme ich bald ein Holzbein. Aber ein Zweibeiner werde ich nie mehr."