Guten Morgen, liebe Lilifee!
Es tut mir leid, dass die Tage nun wieder schwerer werden für dich. Geburtstage, Jahrestage und Feiertage bleiben offenbar schmerzhaft… zumindest befürchte ich das. Der nächste schwierige Tag für meine Familie und mich wird der Geburtstag meiner Mutter Anfang März… wenn ich diese schwierigen Tage bezogen auf meinen Partner und meine Mutter zusammenlege, dann bleibt das ganze Jahr schmerzhaft. Alle drei Monate kommt so ein Tag. Und es wird noch mehr Verstorbene in meinem Umfeld geben in den nächsten Jahren, es werden also noch mehr solche Tage… Deshalb denke ich mir, wenn ich nicht das ganze Jahr Angst vor solchen Tagen haben möchte (und das möchte ich nicht), muss ich einen Umgang damit finden. Rituale sollen dabei helfen, hab ich gelesen. Also habe ich beschlossen, es damit zu versuchen. Damit heble ich die Frage „was tu ich an dem Tag?“ aus. Vielleicht hilft mir das, mal sehen.
Danke für deine wohlwollende Einschätzung, ich hätte ein Talent für all diese handwerklichen Dinge, die ich mache…. Ich kann nicht behaupten, ich hätte ein Talent dafür. Ich fühle mich nicht so. Was ich aber habe, ist ein Interesse für diese Dinge. Und dieses Interesse teile ich mit meinem Vater.
Entdeckt habe ich es, als ich Anfang zwanzig war. Damals zogen mein zukünftiger Ex-Mann und ich in unsere erste gemeinsame Wohnung. Wir haben uns eine Küche in diese Wohnung gebaut. Er war Möbeltischler. Von ihm habe ich viel gelernt und entdeckt, wie schön Holz ist. Mit diesem Werkstoff kann ich inzwischen laienhaft gut umgehen. Und da ich das nicht beruflich mache, sondern nur für mich selbst, ist es egal, ob ich ein Möbelstück, das ich baue, drei Mal machen muss oder mehrmals korrigieren muss. Ich mach halt so lange, bis es passt - und das obwohl ich jedes Stück exakt plane. Egal, am Ende ist es so, wie ich es haben will.
Mich drängt auch die Zeit nicht. Ob ich ein Stück heute, morgen oder übermorgen fertig mache, ist unerheblich. Und was mir zusätzlich zugute kommt: ich habe keine Angst, Dinge auszuprobieren. Den Umgang mit Werkzeugen und Maschinen kann man lernen.
Irgendwann im Leben hast du mit Sicherheit das erste Mal einen Mixer in der Hand gehabt. Im Laufe der Zeit hast du vielleicht festgestellt, dass er bei manchen Aufgaben (Brotteig kneten z.B.) zu schwach ist und hast dir bei Gelegenheit einen stärkeren gekauft. Mit den Jahren hast du nun vielleicht ein richtig tolles Gerät, das allen Aufgaben gewachsen ist. Eine solche Entwicklung habe ich auch mit Werkzeugen erlebt… nach über 30 Jahren hobbymäßigem Werkeln hat es sich entwickelt. Ich glaube nicht, dass das etwas mit Talent zutun hat. Es ist Interesse.
Manchen Leuten gibt es ein Gefühl von Stolz und Zufriedenheit, einen wunderschönen Kuchen gebacken und verziert zu haben, ich bekomme dieses Gefühl, wenn ich ein Möbelstück fertig habe.
Ich finde es einfach toll, sich etwas selbst zu bauen. 1. kann man sich genau das bauen, was man haben möchte und 2. entscheidet man selbst, welche Qualität das fertige Stück hat. Gerade in der heutigen Zeit wird alles schrecklich teuer und was man für teures Geld bekommt, hat keine Qualität mehr.
Im Prinzip ist die Werkelei nichts anderes, als selbst zu kochen
Alles, was ich rund ums Nähen weiß, hat mir meine Mutter beigebracht. Sie war Schneiderin und Perfektionistin. Für mich ist es bis heute unvorstellbar, dass man aus Stoff und Nähseide solche Dinge zaubern kann, wie es meine Mutter konnte. Sie hatte ein umfassendes Wissen und auch das richtige Gespür dafür, welcher Stoff welche Eigenschaften hat, welcher Schnitt mit welchem Stoff genäht werden kann und welcher Schnitt auf welche Figur passt. Wenn sie mich beim Kleidung kaufen begleitet hat, musste ich nichts probieren, meine Mutter wusste auf ersten Blick: das steht mir, das steht mir nicht.
Solange ich mich erinnern kann, surrte die Nähmaschine in ihrem Schneiderzimmer. Von ganz klein auf, habe ich meiner Mutter beim Nähen zugeschaut. Ich hab das Handwerk dann mit meinem technischen Interesse ausgeweitet und hab angefangen, mechanische Nähmaschinen (ohne elektrischen Motor, also ja, solche wie du sie beschreibst) zu zerlegen, versuchte die Mechanik zu verstehen und hab dann auch kleine Fehler behoben, wenn etwas nicht funktioniert hat.
Bei elektrischen Nähmaschinen kann ich vielleicht mechanische Defekte beheben, sobald aber Strom im Spiel ist, steige ich auch. „Puzzle und der Strom“ ist eine lange Reihe von schmerzhaften Misserfolgen
Selbstverständlich gäbe es in diesem großen Haus mehrere Räume, in die ich ausweichen könnte. Das wäre dann aber ein Stock höher, dort ist im Moment Renovierungsbaustelle.
Ich verstehe es absolut, dass man der Trauer entfliehen möchte, sich ablenken möchte. Ich tue das auch. Sie ist einfach unheimlich schwer auszuhalten. Wenn man den Schmerz dosieren könnte, ihn sich quasi in kleine Häppchen aufteilen könnte, wäre er leichter auszuhalten. Ich glaube, wir kennen das alle, dass man einige Zeit in Gesellschaft genießen kann, der Schmerz aber in voller Wucht zuschlägt , sobald diese Ablenkung vorbei ist.
Mit der Zeit ist diese Wucht bei mir milder geworden und daher leichter auszuhalten. Ich denke, das ist der Effekt, den uns der Spruch „die Zeit heilt alle Wunde“ klarmachen möchte. In Zusammenhang mit der Trauer von „Heilung“ zu sprechen, ist allerdings unpassend. Trauer ist keine Krankheit, die „heilen“ muss. Sie muss einen Platz finden, im Alltag, im Herzen, in der Seele, einen Platz, an dem sie sein darf und an dem sie den Alltag nicht mehr unerträglich macht. Sie ist quasi ein neuer Einrichtungsgegenstand, der Platz braucht. Deshalb haben viele das Gefühl, nach einem Verlust das ganze Leben neu ausrichten oder besser neu einrichten zu müssen, damit alles wieder seinen Platz bekommt und wieder Ordnung ins Chaos einzieht. Das ist der schwierige Aspekt eines Verlustes.
Ich habe hier schon oft gelesen, dass der Tod wie eine Naturkatastrophe unkontrollierbar über das eigene Leben hereingebrochen ist und alles zerstört hat. Dieser Vergleich ist auch für mich passend.
Ich hab hier immer wieder Hochwasser. Wenn das Wasser kommt, kommt es rasend schnell. Die ganze Nachbarschaft hilft zusammen, um Besitz zu retten, Eigentum zu schützen, den Schaden gering zu halten. Doch das Wasser ist nicht zu bändigen. Machtlos muss man zuschauen, wie es alles zerstört, was in seinem Weg steht. Es läßt Chaos zurück, viel, viel Dreck, Schlamm und Zerstörung. Wenn es weg ist, geht es ans Aufräumen.
Genauso fühlt sich mein Leben seit dem Verlust meines Partners an. Sein plötzlicher, für mich unerwarteter Tod ist wie eine Naturkatastrophe über mich hereingebrochen und hat alles zerstört, was mein Leben war…. Das gesamte Ausmaß der Verwüstung zeigte sich erst, als der Schock abgeklungen ist… unvorstellbar, was diese Katastrophe angerichtet hat. Noch heute (mehr als zweieinhalb Jahre später) entdecke ich immer wieder neue „Schäden“. Immer wieder begegnet mir etwas, das den Gedanken „das wäre das Richtige für dich, mein Schatz“ auslöst. Ach, *grml* das muss ich jetzt selbst lösen….
Meiner Ansicht nach gibt es nur zwei Möglichkeiten: das Chaos bestehen lassen und darin zugrunde zu gehen, oder es Stück für Stück zu beseitigen, um das Leben zurückzugewinnen.
In meiner Verwandtschaft habe ich miterlebt, dass man sich nicht aktiv für eine der beiden Möglichkeiten entscheidet. Eine weitläufige Verwandte von mir verlor ihren Mann plötzlich und erwartet, als sie etwas jünger war als ich heute. Das ist gut 20 Jahre her.
Sie verhielt sich ganz gleich wie ich, sie versuchte alles, was ihr einfiel, um ihr Leben wieder zu ordnen. Bei ihr blieb es trotzdem dunkel, sagt sie selbst. Woran liegt es also, dass ein Teil der Trauernden in die eine Richtung geht und ein anderer Teil in die andere? Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es am Schicksal? Oder am Blickwinkel?
Nun bin ich wieder am Anfang unseres Austausches. Wieder bei Schicksal oder Blickwinkel.
Ich weiß nur, dass viele Leute mein Leben nicht schön finden, ich aber schon. Ist es also hell oder dunkel in meinem Leben?
Schicksal und Blickwinkel (= Perspektive) sind miteinander verwoben. Vielleicht ist das Schicksal ein kleiner, grinsender Wicht, der uns die Ereignisse wertfrei vor die Füße wirft und uns auffordert: „mach was draus.“…..
Mein Schicksal ist es heute nichts zu tun. Und aus meinem Blickwinkel ist ein Faultag genau das, was ich heute brauche
Jedenfalls aber begrüßte mich das Schicksal heute früh mit: „Da hast du einen neuen Tag, mach was draus“.
Ein ruhiger Tag soll es für dich werden, der möglichst nicht weh tut…
Puzzle