Hallo liebes Forum,
Durch ein Buch bin ich auf euch aufmerksam geworden und sehr froh, meine Geschichte hier niederschreiben zu können und zu wissen, dass sie von Menschen gelesen wird, die mich verstehen. Ich bin 35 Jahre alt, habe zwei Kinder und zwei Geschwister.
Das Drama nahm 2019 seinen Lauf.
An Ostern erhielt meine Mama aus heiterem Himmel die Diagnose fortgeschrittener Blasenkrebs, für uns alle ein absoluter Alptraum... Ausgerechnet meine Mama. Keine Krebsfälle in ihrer Familie. Niemals Raucherin, immer sportlich und penibel darauf bedacht, sich gesund und ausgewogen aus dem eigenen Garten zu ernähren. Wenig Fleisch, viel Gemüse. Der Naturheilkunde zugewandt und immer optimistisch und voller Hoffnung, dass alles im Leben seinen Sinn hat, auch wenn man ihn nicht sofort erkennt. Eine Frohnatur, ein Fels in der Brandung für viele Menschen, Trauerbegleiterin, ehrenamtlich im Hospiz tätig und stets sozial engagiert. Unser aller geliebter Familienmittelpunkt.
Sie musste eine schwere OP über sich ergehen lassen, die sie körperlich komplett verändert hat. Die anschließende Chemo war die Hölle, das Leben musste komplett neu aufgestellt werden.
Mein Vater, leider durch jahrelange Alkoholabhängigkeit schon schwer krank, starb mehr oder weniger plötzlich im Juni des selben Jahres mit gerade mal 62 Jahren nach einer Routine-OP an multiplen Organversagen, nachdem er dem Tod schon mehrere Male knapp von der Schippe gesprungen ist. Es war ein jahrelanges Auf und Ab, vor allem die fünf Jahre vor seinem Tod waren geprägt von Dialyse, ständigen Stürzen, schlimmsten Schmerzen nach mehreren Wirbelbrüchen und seiner Lebensmüdigkeit.
Er war der liebste, klügste und tiefgründigste Mensch, den ich kannte. Leider ist ihm genau das zum Verhängnis geworden und er ist am Leben gescheitert. Er sagte mal 'Der Einfluss des Alkohols auf die Menschheit liegt ohne jede Frage an seiner Macht, die verborgenen Fähigkeiten der menschlichen Natur zu stimulieren, die von den kalten Fakten und dem trockenen Zynismus der Nüchternheit zerstört werden.' Das trifft es ziemlich gut.
Sein Tod war für mich der erste größte Verlust meines Lebens. Ich hatte lange damit zu kämpfen, dass wir nicht bei ihm waren, als er starb. Es fühlt sich auch heute noch so an, als hätte ich ihm im Stich gelassen. Ich war seine Vorsorgebevollmächtigte und wir mussten im Krankenhaus unterschreiben, dass seine kreislaufstabilisierenden Medikamte abgesetzt werden dürfen, nachdem er mehrere Tage im Koma lag und es keine Hoffnung mehr gab. Meine Geschwister und ich saßen stundenlang an seinem Bett, eine Stunde, nachdem wir gegangen waren, kam der Anruf aus dem Krankenhaus, dass er gestorben ist.
Lange Zeit war ich eher Mutter für ihn als Tochter. Ich fuhr ihm zum Arzt, putze seine Wohnung, erledigte seine Einkäufe und Amtsgänge. Und ich tat es gerne. Meine Mutter nannte mich deswegen oft co-abhängig. Manchmal denke ich, ich trage eine Mitschuld, dass er die Kurve nicht mehr gekriegt hat.
In den Wochen des Todes meines Papas hatte meine Mutter gerade ihren dritten Chemo- Zyklus hinter sich gebracht. Sie war so tapfer und hat sich gut mit allem arrangiert. Sie hatte trotz Corona zwei tolle Jahre, der familiäre Zusammenhalt war stärker denn je. Sie und ihr Lebensgefährte kauften sich ein Wohnmobil, die beiden genossen ihr wieder gefundenes Leben und das Schicksal meinte es gut mit ihr. Wir alle atmeten auf.
Im März 2021 wurde ich Mutter meines zweiten Sohnes. Leider aufgrund schwerer Komplikationen acht Wochen zu früh. Und er war nicht bereit für diese Welt, viel zu leicht und viel zu unreif. Das alles zur Hochphase der Pandemie, was alles nur noch schwieriger machte. Es folgten 10 Wochen Neonatologie mit vielen Rückschlägen und traumatischen Erfahrungen. Zerrissen zwischen meinem großen Sohn im Homeschooling und dem Säugling auf der Intensivstation. Zwischen Masken, Desinfektionsmittel, fehlendem Wochenbett, Milchpumpe und dem Alltag, der erbarmungslos irgendwie weiter funktionieren muss.
Meine Mama war mir zu dieser Zeit die wertvollste Stütze... Ohne sie hätte ich oft nicht gewusst, woher ich die Kraft nehmen sollte.
Heute ist mein Sohn zwei Jahre alt und gesund. Ein kleines Wunder, für das ich unendlich dankbar bin.
Meine Mutter wollte immer Oma sein. Sie hat sich so gefreut, als ich das erste Mal schwanger wurde und sie zur stolzen Oma machte. Und sie war mit all ihrem Sein die allertollste Oma für meine Söhne.
Kurze Zeit dachten wir alle, dass wir doch jetzt genug vom Schicksal gebeutelt wurden und endlich wieder etwas Ruhe einkehren müsste. Falsch gedacht.
Im Juli letzten Jahres stellte sich heraus, dass meine Mutter wohl einen Tumor (angeblich ausdrücklich kein Rezidiv) an der linken Niere hatte. Aufgrund unglücklicher Umstände würde dieser Tumor leider erst sehr spät diagnostiziert. Ihr wurde die Niere entfernt, eine erneute Chemo lehnte sie ab.
Die OP überstand sie noch verhältnismäßig gut, doch schon da war sie nicht mehr die Selbe. Im Herbst bekam sie schlimmste Rückenschmerzen, die irgendwann nur noch mit Morphin annähernd in den Griff zu bekommen waren. Es ging rapide bergab, im Winter konnte sie kaum noch Essen bei sich behalten und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Es war schlimm für uns, sie so sehen zu müssen und ihr nichts von der Last abnehmen zu können. Im März diesen Jahres bekam sie dann die Gewissheit, dass sie Metastasen in Bauchfell und Lendenwirbel hat. Keine Therapieoptionen mehr, nunmehr palliative Versorgung. Sie verweigerte Nahrung, ihr Magen arbeitete kaum mehr, Medikamte konnte sie deshalb oral nicht mehr einnehmen. Es folgte ein Hospizaufenthalt mit Anlage eines Ports und einer PEG zum ablassen der Nahrung um Miserere zu verhindern. Künstliche Ernährung lehnte sie vehement ab.
Ich habe den Gedanken viel zu lange nicht zulassen können, dass sie bald sterben wird. Ich wurde wütend, wenn meine Geschwister oder der Lebensgefährte meiner Mutter mir auch nur annähernd das Gefühl haben, sie aufzugeben. Ich habe Ärzte und Kliniken konsultiert, Befunde verschickt, viele Gespräche mit Spezialisten geführt. Alle mit dem gleichen hoffnungslosen Ergebnis. Ich wollte und konnte es nicht wahr haben. Und doch traf mich die Erkenntnis irgendwann wie ein Schlag: Meine Mama würde nicht mehr lange bei uns sein.
Wir hatten Dank eines tollen SAPV- Teams die Möglichkeit, sie nach Hause zu holen. Und das taten wir und waren abwechselnd Tag und Nacht an ihrer Seite.
Ich glaube, die einzige Barmherzigkeit die eine Krebserkrankung mit sich bringt, ist, dass er einem die Möglichkeit gibt, sich verabschieden zu können. Meine Geschwister und ich führten noch lange und intensive Gespräche mit unserer Mama, nichts blieb ungesagt. Dafür sind wir sehr dankbar.
Am 25. Mai um 12.40 Uhr starb sie.
Und mit ihr auch unsere Kindheit, unsere Hoffnungen und unser Vertrauen ins Leben und darauf, das immer alles irgendwie gut wird.
Sie durfte nur 62 Jahre alt werden, genauso wie unser Vater. Manchmal ist das Schicksal wirklich ein mieser Verräter.
Und nun, 9 Wochen später, stehe ich hier. Mutterseelenallein, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich weiß nicht, wie mir geschieht und wie die Welt es überhaupt wagen kann, sich einfach weiter zu drehen. Meine Geschwister und treffen uns jeden Sonntag in unserem leeren Elternhaus. Würde Mamas geliebter Garten nicht langsam verwildern, würde man denken, sie wäre nur längere Zeit verreist.
Wir versuchen verzweifelt, unsere Familienrituale weiter am Leben zu behalten, aber im Stillen ist uns allen klar, dass auch das ein Ablaufdatum hat, weil unser aller Mittelpunkt nicht mehr da ist.
Hätte ich meine Kinder nicht, würde ich nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Bei jedem neuem Foto meiner Söhne möchte ich ihr eine whatsapp schreiben, obwohl einem sofort bewusst wird, dass das nicht mehr geht und man das doch eigentlich ganz genau weiß. Vielleicht ist es wie eine Art Phantomschmerz, als hättet man einen Arm verloren.
Zurück bleibt ein Loch, was sich nicht füllen lässt. Ein Gefühl im Bauch, was man nicht so recht beschreiben kann und das sich ständig verändert. Manchmal ist es schrill und schmerzhaft, manchmal taub, manchmal gleicht es Übelkeit, manchmal Zahnschmerzen. Manchmal denkt man, man wird verrückt. Man sucht nach Zeichen, fragt sich, wie es sein kann, dass so ein essentieller Bestandteil der eigenen Existenz einfach so weg ist... Und der einzige Mensch, der einem helfen und der einen verstehen könnte, der einzige, mit dem man überhaupt darüber reden möchte, ist nicht mehr da. Und ich weiß nicht, wie das Leben ohne Eltern funktionieren soll und wohin mit mir.
Puh... Das ist ein wirklich langer Text geworden. Ich danke jedem, der bis hierher gelesen hat. Es tut gut, alles halbwegs geordnet zu Papier gebracht zu haben.
Ich schicke jedem eine warme Umarmung, der sie gerade gebrauchen kann.