Ihr lieben Menschen hier
Ich habe einfach aus Verzweiflung "bodenlose Trauer" in Google eingegeben, und bin auf diesem Forum gelandet. So viele traurige Geschichten, so viele Schicksale, und so viele liebevolle, verständnisvolle Antworten.
Ich möchte euch auch meine Geschichte erzählen, obwohl es jedes Mal wieder so unfassbar schwer ist.
Seid vorbereitet, dass die Schilderungen Details aus dem Krankheitsverlauf beinhalten und ein bisschen wirr und lang sind.
Alles begann an einem Dienstagabend, es war der 24. März 2020. Und seither ist mein Leben nicht mehr das gleiche. An diesem Abend musste mein Vater notfallmässig ins Spital wegen akuter Schwäche.
Mein Bruder hat bei mir geklingelt, ich war gerade dabei, meine kleine Tochter in den Schlaf zu begleiten. Sie schlief dann auch schon, so dass ich an die Tür konnte. Ich ahnte schon, dass etwas nicht stimmte, denn um Viertel nach acht abends klingelt hier sonst niemand mehr. Meine Eltern, mein Bruder und ich wohnen alle nebeneinander und sehen uns jeden Tag. So ging ich mit Babyphone rüber und sah meinen Vater kraftlos auf dem Sofa sitzen, er konnte nicht einmal mehr selber aufstehen, so schwach war er. Mein Bruder und ein anderer Nachbar haben ihn zum Auto getragen und ins Krankenhaus gebracht. Später hat mein Bruder angerufen, dass unser Vater sehr hohe Entzündungswerte hätte und eine schwere Lungenentzündung diagnostiziert worden sei. (Um es vorweg zu nehmen: Es war nicht COVID19.)
Am nächsten Mittag rief ich ihn nichts Schlimmeres ahnend an, wie es ihm gehe, und er sagte nicht viel, ich verstand ihn sehr schlecht, er hatte eine Sauerstoffmaske auf. Ich sprach ein paar Sätze mit ihm und gab den Hörer an meine Mutter weiter. Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm geredet habe.
Von Tag zu Tag ging es ihm dann schlechter, die Antibiotika-Kur schlug nicht an, die Lunge wurde immer mehr krank, und niemand konnte ihm helfen, für die Beatmungsmaschine war er zu schwach, das Risiko, dass er an der Intubierung sterben könnte, war zu gross. Also weiter immer mehr Sauerstoff über die Maske. Das Corona-Virus konnte nicht nachgewiesen werden. Und auch die Röntgen-Bilder der Lunge sprachen gegen COVID19. Am Donnerstag konnten wir schon nicht mehr mit ihm telefonieren, da er ständig Sauerstoff brauchte. Besuchen durften wir ihn nicht (Besuchsverbot wegen Corona-Pandemie).
So verbrachten wir die Tage zwischen Hoffen und Bangen, aber die Hoffnung überwog noch bzw. klammerten wir uns daran.
Am Sonntag dann durften ihn meine Mutter und meine beiden Brüder mit voller Schutzkleidung besuchen, da es ihm sehr schlecht ging. Aber er war bei vollem Bewusstsein, er konnte einfach vor Schwäche nicht sprechen. Wir hatten immer noch Hoffnung.
In der nächsten Nacht dann ein schwerer Hirnschlag, mein Bruder und meine Mutter haben an seinem Bett gewacht bis zum Morgen. Am Montagnachmittag haben wir alle ihn besucht (meine Mutter, meine Schwester und meine beiden Brüder und ich). Und der Anblick meines Vaters erschütterte mich, er war nur noch ein Schatten seiner selbst, ohne Kraft, schwer atmend mit Sauerstoff Maske, die Augen geschlossen. Da der Hirnschlag in der linken Hirnhälfte stattfand, habe ich ihm Musik mitgebracht, die ich ihm vorgespielt hab. Und er hat mit letzter Kraft sein Gesicht mir zugewandt und die Augen aufgemacht. Ich hielt seine Hand, und er hat sie gedrückt. Ich war nur unkontrolliert am Weinen. Als ich mich von ihm verabschiedet habe, ist er im Beisein meines Bruders und seiner Frau gestorben. Einfach gestorben. Er hat durchgehalten, bis er uns alle nochmals sehen konnte und wir uns von ihm verabschieden konnten, für immer. So unglaublich anstrengend und leidvoll müssen diese Stunden für ihn gewesen sein.
Ich weiss nicht mehr, wie ich das alles geschafft habe an diesem Montagabend, auch mit meiner Tochter, die erst 2,5 Jahre alt ist. Am 30.03.2020 ist mein Vater gestorben. Ein schönes Datum, mein Vater hat immer an Numerologie geglaubt, sich zumindest damit befasst, er meinte auch immer, er hätte ein schönes Geburtsdatum, 24.04.48.
Am nächsten Tag durften wir noch von seinem Körper Abschied nehmen, er sah friedvoll und entspannt aus, aber das erste Mal, dass ich einen toten Menschen gesehen habe. Er lag noch im Krankenhaus-Bett, sein Name stand noch auf dem Bett. Ich glaube, ich habe noch nie so geweint. So endgültig, ich sehe ihn nie wieder.
Das Erledigen all der Formalitäten, alles so kräftezehrend, ich so unglaublich traurig und untröstlich, mein Vater ist nicht mal 72 Jahre alt geworden, er hätte am 24. April Geburtstag gehabt. Die Beerdigung haben wir gemeinsam geplant, da in diesen seltsamen Corona-Zeiten ja kein Gottesdienst stattfinden darf. Auch kein Priester. Wir wollten aber etwas Würdiges, Freierliches. Wir haben sein Leben Revue passieren lassen, Psalme gesprochen und seine Lieblingslieder abgespielt. Ein Foto auf dem Sarg, Blumen, Erinnerungen. Jetzt ist er unter der Erde, ganz allein. So eine schlimme Vorstellung. Ja, es ist nur sein Körper, aber den hab ich geliebt, und jetzt zerfällt er und ich kann nie mehr in diese lieben Augen schauen. Nie mehr Worte aus seinen Mund hören. Nie mehr mit ihm im Strandkorb im Garten sitzen.
Dann die Schuldgefühle, dass ich seine Gegenwart immer als so selbstverständlich nahm, mich nicht so richtig für seine künstlerischen Projekte und Ideen interessiert hab und einfach nicht genug Zeit mit ihm verbracht hab. Und jetzt ist es zu spät. Ich muss dazu sagen, dass ich eine sehr enge Beziehung zu meinen Eltern habe, wir wohnen wie schon geschrieben nebeneinander und meine Tochter und ich essen jeden Mittag mit ihnen Mittagessen. Ich habe meinen Vater also fast täglich gesehen.
Dieser Verlust trifft mich so unvorbereitet und tief, dass ich nicht mehr weiss, wohin mit meinen Gefühlen. Alles hier erinnert mich an ihn. Die Nächte sind besonders schlimm, da ich diesem Erinnerungsstrom so ausgeliefert bin, gemischt mit brennenden Schuldgegühlen und diesen Bildern von seinem Leiden und seinem toten Körper. Die lieblose Plastiktüte mit seinen Kleidern und dem Kulturbeutel aus dem Krankenhaus, sowas macht mich fertig. Dauernd spult mein Kopf die Szene ab, wie wir ihn in den Notfall gebracht haben. Meine Gedanken kreisen darum, wie wir seinen Tod hätten verhindern können, wenn wir ihn früher ins Krankenhaus gebracht hätten, wenn ihn die Ärzte doch an die Beatmungsmaschine angeschlossen hätten. Wenn er diesen Schlaganfall nicht gehabt hätte.
Wir haben einen sehr guten Familie Zusammenhalt, aber trotzdem fühle ich mich allein, da mein Partner wegen der geschlossenen Grenzen nicht mehr zu uns kommen kann. Wir sind nicht verheiratet, er hat keine Aufenthaltsbewilligung (mehr) für die Schweiz, wo wir wohnen.
Alle sagen, es wird leichter mit der Zeit. Im Moment aber ist alles so schrecklich. Wie kann ich je wieder unbeschwert sein? Wie ahnungslos ich in den Tag hineingelebt habe, nicht wertschätzend, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass meine beiden Eltern leben und gesund sind. Ich ertappe mich dabei, wie ich Spaziergänger beobachte, wie sie leichtfüssig voranschreiten und mir denke, wenn ihr wüsstet, was euch noch bevorsteht...
Und mir steht jetzt wieder eine Nacht bevor. Aber immerhin habe ich mal alles aufgeschrieben.
Allen, die bis hierher gelesen haben, möchte ich Danke sagen. So konnte ich meine Geschichte teilen.
Wenn ihr Gedanken dazu habt, bitte schreibt sie auf.
Silvia