Hallo.
Ich bin ganz neu hier. Morgen ist Ulrich zwei Wochen tot.
Die neun Jahre mit ihm waren die schönsten meines Lebens. Und auch seines Lebens, die schönsten neun Jahre mit mir.
Wir waren gerade noch drei Wochen im Urlaub, durch Polen ins Baltikum, mit unserem selbstausgebauten Wohnmobil. Ein sehr auffälliges Wohnmobil, beklebt mit großen bunten Prilblumen und grasgrünen Felgen. Er hat es für uns beide ausgebaut, und wir haben es geliebt, jedes Wochenende und jeden Urlaub waren wir damit unterwegs, etwa 80 Nächte pro Jahr verbrachten wir im Wohnmobil. Während dieses Urlaubs hatte er seinen 60. Geburtstag, an diesem Tag war er ein bisschen nostalgisch und er sagte zu mir: "Versprich mir, dass ich vor dir sterbe". Ich versprach es nicht.
Dann musste er wieder arbeiten, und ich hatte noch zehn Tage frei. Ich fuhr zu meiner Tochter, 260km entfernt, helfen mit den drei Enkeln und so.
Einen Tag bevor ich sowieso wieder heimfahren wollte klingelte mein handy. Polizei. Ulrich liegt im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Sie hatten wohl bei uns zu Hause an der Tür geklingelt, und dann meine Telefonnummer von den Nachbarn bekommen. Meine Tochter schmiss mein Gepäck in den Kofferraum, 10min nach Anruf saß ich im Auto und fuhr ab. Die Tochter rief mir noch hinterher: "Denk dran, ihr seid verheiratet".
Wir sind nicht verheiratet, aber ohne diese Lüge hätte ich ihn ja nicht besuchen dürfen auf der Intensivstation und auch keine Informationen bekommen. Seine Söhne wohnen weiter weg und hätten sicher nicht so schnell kommen können. Von der Autobahn aus fuhr ich direkt zum Krankenhaus. Ich unterschrieb dass wir verheiratet sind und durfte zu ihm. Ich erfuhr, dass er umgekippt sei und 40 min reanimiert wurde. Die Ursache des Umfallens sei noch unklar, wahrscheinlich kein Herzinfarkt und kein Schlaganfall, er hat hohe Entzündungswerte, morgen gehts ins CT, davon verspricht man sich viel. Das CT war dann erst am übernächsten Tag, also Donnerstag. Seitdem ist meine Welt schwarz.
Es lebt nur noch das Stammhirn. Es wird keinerlei Kontaktaufnahme nach außen mehr möglich sein. Morgen Abend großes Gespräch, Seelsorge wird dabei sein. Da wurde ich erstmal ohnmächtig.
Die Söhne hatte ich natürlich längst informiert und sie kamen dann auch zu diesem Gespräch. Sie deckten meine Lüge als Ehefrau und lobten mich sogar dafür, ich habe alles richtig gemacht. Bei dem Gespräch wurde uns dann vermittelt, dass man Anfang der kommenden Woche die Geräte abstellen sollte. Dazu mussten wir Angehörigen gar keine Entscheidung treffen, es gab auch keine Patientenverfügung. Aber es gibt offenbar ein Gesetz: wenn ein Patient am Leben gehalten werden soll, muss dazu ein Ziel formulierbar sein. Was will man damit erreichen, was erhofft man sich damit? Bei Ulrich gab es einfach nichts was man da hätte formulieren können. Auch die Ethikkommission befürwortet das Abschalten. Ein weiteres Gespräch wurde für Montagabend vereinbart. Auch hierzu kamen die Söhne. Und dann ... überstürzte sich alles. "Wenn jetzt alle hier sind, worauf sollte man noch warten..." Ich war gottseidank gestützt von einer Freundin. Sie gab Ulrich den Abschiedssegen. Ich gab Ulrich das nachträgliche gewünschte Versprechen dass er vor mir sterben darf. Es war grauenvoll. Es hieß, der Sterbeprozess kann nach dem Abschalten bis zu einer Woche dauern. Ich durfte bei ihm bleiben. Er atmete selber noch ziemlich gut, da bekam ich sogar ein bisschen Angst dass er nun doch zu so einem Dauer- Komapatienten wird, das will ja keiner. Aber mir wurde erklärt, dass das nicht passieren kann, er bekommt keine Flüssigkeit und keine Nahrung mehr. Nur Morphium.
Es war das pure Grauen. Er hatte keinen Schluckreflex mehr, wurde zwar ständig abgesaugt, aber es hörte sich an wie im whirlpool, so laut! Ich glaube , man hatte erwartet, dass er bereits in der ersten Nacht stirbt. Als er am nächsten Morgen noch lebte, kamen wir in ein Zimmer auf Normalstation, ich im Zustellbett. Ich wollte unbedingt bei ihm bleiben, denn es gibt doch diese Berichte von Fast- Sterbenden, die zurückgeholt wurden und berichten, dass sie das Zimmer von oben gesehen haben, und falls das stimmt wollte ich, dass er dann sieht dass ich da bin. So ging es dann bis Donnerstag mittag. Da wurde es plötzlich still im Zimmer. Kein Gurgeln, kein Whirlpool. Ganz plötzlich.
Gestern mittag bin ich ein bisschen gestolpert, eine Kollegin sagte "fall nicht". Da habe ich losgeheult. Oh doch, ich will fallen, ein gnädiger Sturz, eine Ohnmacht...
Mir fließen jetzt schon wieder die Tränen. Wie ist es mir gelungen, gerade diesen Bericht zu schreiben? Ich halte das Leben gerade nicht aus. Freunde haben gestern Abend das Wohnmobil abgeholt. Stellen es bei sich vors Haus, damit ich es nicht immer sehen muss. So bunt und fröhlich mit den Prilblumen, für uns gebaut. Sie fahren es alle zwei Wochen, damit die Batterie sich nicht entlädt. Entscheidungen treffe ich später.