Mit 39 ganz ohne Familie

  • Guten Abend,

    Ich habe das Gefuehl, dass ich in einem Meer von Trauer versinke und nie wieder hochkomme. Ich brauche dringend Hilfe von anderen Trauernden.


    Als ich ein Kind war verstarb meine Grossmutter, die bei uns wohnte und zu der ich eine sehr enge Verbindung hatte. Alle andere Grosseltern waren schon tot. Als ich Teenager war verstarb mein Papa, dann mein biologischer Vater und gerade mein Onkel und morgen bringe ich meine ueber alles geliebte Mutter ins Heim. Ich halte den Schmerz kaum mehr aus. Eben machten wir noch einen Abendspaziergang, hoerten den Mauerseglern zu und sie sagte: Du bist fuer mich das Allerliebste auf Erden. Beim Ausraeumen gestern fand ich alte Briefe und Kondolenzbriefe zum Tod meines Papas und ich konnte die Nacht nicht schlafen. Wie unser offenes Haus beschrieben wurde, mein Vater und meine Mutter, unser Garten, die Tiere, die Buecher, die Musik. Nix ist mehr da. Und nun werde ich auch meine Mama verlieren. Sie ist zwar physisch noch da, jedoch dement. Morgen fahre ich sie ins Heim, wir haben lange auf einen Platz gewartet. Heute hab ich das Zimmer angeschaut und es kam mir alles surreal vor. Kaum etwas kann sie mitnehmen. Wenn ich an das Ausraeumen des Hauses denke wird mir speiuebel. Wenn ich an meine Mama im Heim denke noch mehr, denn man weiss ja, danach kommt mein altbekannter Freund, der Tod.


    Ich wuerde mich so sehr freuen von anderen Betroffenen zu hoeren. Ich mache mir vor allem dazu Sorgen:

    - Weihnachten. Das wurde bei uns immer sehr gefeiert, zuletzt Mama und ich. Was macht man da? Freunde haben mich eingeladen, ich fuehle mich aber dem nicht gewachsen. Ich kann bei keiner anderen Familie sitzen.

    - Meine Trauer, die mich immer weiter von anderen Menschen abruecken laesst. Ich fuehle mich auf Feiern oft wie ein Aussenseiter und ertappe mich dabei durchzugehen wer noch seine Eltern hat. Das muss noch von meiner Teenagerzeit her ruehrern ("das ist die deren Vater ..."). Ich bekomme Stiche im Herzen wenn mir eine Freundin Gurken vom Papa schenkt oder wenn ich hoere dass die Mama zum Putzen kommt oder abends vorbei kommt weil man einen schrecklichen Tag hatte und Lindenbluetentee bringt. Geht es anderen auch so? Ich habe liebe Freunde die sich kuemmern, nur hat wirklich jede und jeder von ihnen die Eltern, sogar noch die Oma, nur zwei haben schon den Vater verloren. Kommentare von Bekannten: "ist schon krass bei dir", "du solltest mal ein Buch schreiben", oder am schlimmsten "ach, wenn ich das hoere bin ich heilfroh dass ich meine Eltern noch hab. Mein Papa hat einen hohen Cholesterinspiegel. Wir fahren im Herbst an die Ostsee." Toll. Danke.

    - Wie um Himmels Willen soll ich ohne Anker leben, ohne Gelaender und Geruest? Wie ohne ein Elternhaus in das ich zurueck gehen kann? Wie geht ihr damit um wenn es das Elternhaus nicht mehr gibt? Wie soll ich auf eine Dienstreise fahren ohne dass mir meine Mutter "ich sende Dir Englein" schickt???

    - Ich habe grosse Angst, mich von meinem Ehemann zu entfernen. Seine Eltern sind fit, seine Geschwister auch, es gab auch keine anderen Dramen in seinem Leben. Er kann meine tiefe Trauer, mein Verlorensein in der Welt nicht verstehen. Leider haben wir auch keine Kinder bekommen koennen. Gleichzeitig hab ich wahnsinnig Angst ihn zu verlieren, denn er ist ja jetzt meine Familie.

    - Ich habe Angst, dass ich nachdem ich die letzten Jahre nix gemacht habe ausser zu trauern, zu organisieren und zu pflegen und zu arbeiten und ab und an mal wegzugehen, nicht mehr in mein Leben zurueckfinde. Mein letztes "Universum" war die Pflege meiner Mutter. Mir fehlt komplett die Perspektive, ich habe nichts worauf ich mich freuen kann. Es mag absurd klingen, aber als mein Vater starb hatte ich die Liebe, das Leben, die Reisen, die Welt, Studium vor mir. Nun bin ich in der Mitte meines Lebens und denke: was um Himmels Willen soll jetzt noch kommen?

    - Ich bin extrem wuetend. Warum musste ich diese meine Menschen so frueh verlieren? Warum habe ich nicht einmal Geschwister?

    - gibt es auf solche Form von Trauer (frueher Tod der Eltern) spezialisierte Psychologen, Selbsthilfegruppen, etc? Ich brauche etwas was ich online machen kann, denn ich lebe im nichtdeutschsprachigen Ausland. Ich moechte darueber in meiner Muttersprache reden und schreiben.


    Ich freue mich sehr auf Antworten und Eure Gedanken!!

  • Liebe Ganzallein,

    Es tut mir sehr leid, das du schon so viele Verluste verkraften musstest. Schön, das du unser Forum gefunden hast, den ich denke der Austausch mit Gleichgesinnten kann sehr hilfreich sein.


    Feiertage sind nach Verlusten immer besonders schwer. Es sind neben deiner tiefen Trauer auch noch ganz viele andere Themen die hochgekommen sind- wie die Wurzeln die du verloren hast, die Verlustangst usw.

    Trauerbegleitung und Psychologische Beratung gibt es auch schon online. Vielleicht hilft dir das.


    Und natürlich kannst du auch hier jederzeit schreiben. Hier findest du immer jemand der dir zuhört.

    Fühl dich willkommen <3

    Isabel

  • Liebe Ganzallein,


    du hast so viele Menschen verloren, es tut mir leid das zu lesen.


    Meine Situation ist sicher ganz anders als deine, aber auch ich habe kein Elternhaus mehr, in das ich zurückkommen kann. Meine Familie war meine Partnerin und sie starb letzten Sommer. Jetzt gibt es auch niemanden mehr, zumindest nicht wirklich. Ich bin allein und teile viele deiner Gedanken und Ängste.


    Leider weiß ich auch nicht, wie man mit dem Alleinsein zurechtkommen kann. Es erscheint mir oft wie das Unmöglichste auf der Welt und das, obwohl ich mich unter anderen Menschen paradoxerweise noch einsamer fühle als alleine.


    Ich kenne das bittere Gefühl, wenn alle anderen um einen herum ein gutes, enges Verhältnis zu ihren Familien zu haben scheinen und man selbst alleine ist. Mich hat das vor allem in meiner Jugend und als junge Erwachsene oft sehr traurig gemacht und mich wie ein Alien fühlen lassen. Auch den Gedanken, dass es nicht fair ist, kenne ich in dem Zusammenhang.

    Ich möchte dir auf keinen Fall zu nahe treten und sicher kann ich mich nicht gut genug in deine Situation hineinversetzen, weil ich nie eine intakte Familie und gute Beziehungen zu meinen Eltern hatte, aber trotzdem kann ich mir vorstellen, dass der Umzug deiner Mutter bestimmt ein sehr schwerer Schritt für euch alle ist. Aber noch ist sie da, sie ist nicht aus dem Leben und nicht aus der Welt. Alles wird anders und ich verstehe, dass dir das große Angst macht. Aber auch mit dieser Veränderung könnt ihr euch nahe bleiben.

    Ist das Pflegeheim denn weit von deinem Wohnort entfernt? Wie gut lassen sich Besuche in deinen Alltag integrieren, wie oft kannst du sie sehen? Weißt du das schon? Ist es möglich, deine Mutter manchmal tageweise abzuholen und mitzunehmen, zum Beispiel über Weihnachten? (Bei meinem Opa ging das und das war sehr wertvoll für ihn und für alle andern)

    Es ist gut, dass du deinen Mann hast. Kannst du mit ihm über deine Gefühle und Ängste sprechen? Seid ihr euch nahe?


    Im Moment gibt es wegen Corona wirklich sehr, sehr viele Online-Angebote - auch für Psychotherapie (per Videotelefonat). Wenn du im Ausland lebst, kannst du das aber - denke ich - nicht über die Krankenkasse abwickeln. Aber vielleicht findest du trotzdem etwas Passendes, ich drücke dir die Daumen.


    Liebe Grüße, Sturm

  • Liebe Ganzallein,


    du hast mein vollstes Mitgefühl, ich bin in einer ähnlichen Situation und kann viele deiner Gedanken und Gefühle sehr gut nachvollziehen.

    Vor 7 Wochen habe ich meinen geliebten Papa von einem Tag auf den anderen plötzlich verloren. Seitdem ist kein Tag ohne Tränen vergangen. Ich habe noch meine Mama, aber sie ist auch schon Ende 70 und wenn sie nicht mehr ist habe ich auch meine komplette Familie verloren. An 3 meiner Großeltern kann ich mich gar nicht erinnern, meine Oma starb als ich 15 war. Auch ich kann es kaum ertragen dass die meisten Leute in meinem Alter noch beide Eltern haben und viele sogar noch Großeltern. Geschwister habe ich auch keine.

    Auch ich bin 39 wie du und ich finde die Vorstellung unerträglich die Hälfte meines Lebens ohne Eltern leben zu müssen. Ich habe einen Partner, aber auch er ist gesundheitlich angeschlagen und ich habe große Angst jahrzehntelang vielleicht ganz allein auf der Welt sein zu müssen. Kinder haben wir auch nicht.

    Mein Bekanntenkreis hat sich auch ziemlich aufgelöst, jahrelang habe ich versucht mir einen stabilen Freundeskreis aufzubauen aber früher oder später ist alles in die Brüche gegangen. Nun fehlt mir die Kraft es weiter zu versuchen. Verlorensein auf der Welt trifft es sehr gut. Ich frage mich auch was jetzt noch kommen soll. Die beste Zeit in meinem Leben war als meine kleine Familie noch komplett war. Die ist nun für immer vorbei.

    Tut mir leid dass ich dir keine hilfreichen Tipps geben kann, ich weiß leider selber nicht wie sich diese furchtbare Situation verbessern lässt. Aber ich wollte dich wissen lassen dass du nicht allein bist.


    Liebe Grüße

  • Guten Abend, vielen lieben Dank fuer die Rueckmeldungen. StellaKuchen : Es tut gut nicht allein zu sein!! Sehr sehr sehr sogar. Mein herzliches Beileid und vielen Dank. Sturm : leider lebe ich mehrere Flugstunden vom Heim meiner Mutter entfernt. Sie wollte nicht mitkommen, es waere schwierig geworden. Sie liebt das Landleben, ich wohne in einer Stadt, sie kann die Sprache nicht etc. Die Alternative waere gewesen wieder in die Naehe zu ziehen wo ich aufgewachsen bin. Sie hat das auf gar keinen Fall gewollt. Es ist einfach Scheisse (Entschuldigung). Etwas anderes faellt mir gerade nicht ein. Ich habe das Gefuehl, dass mein Mann meint er muesse meine Probleme loesen und alles kompensieren, dabei soll er einfach nur da sein. Wenn ich Biografien von Menschen der Kriegsgeneration lese, dann merke ich wie normal der Tod war. Er ist es nicht mehr. Und die, die besonders viel Tod erfahren haben in der heutigen Zeit in Europa stechen eben heraus. Man muss irgendwie zurecht kommen, nur wie?

  • Liebe Ganzallein!

    Ich kann dich sehr gut verstehen,und ich habe auch sehr viele Menschen verloren.Meine Großeltern

    durfte ich nur kurz kennenlerne, bevor sie verstorben sind,meine Eltern folgten in vier Jahren,starb

    meine Mutter,meine Freundin,meine Oma und mein Vater,viele Verwandte auch,dann war es ruhig

    und 2018 verstarb meine Schwiegermutter,die wie eine 2 Mutter für mich war und 10 Monate später

    mein Mann.Und ich habe mit vielen dement kranken Menschen zu tun und weiß das es eines Tages

    nicht mehr geht und das sie ins Heim müssen,das fällt dir bestimmt auch nicht leicht und ich hoffe,

    das sie sich dort etwas einlebt.Ja du hast es nicht leicht,aber es ist gut das du deinen Mann an deiner

    Seite hast und meistens ,nicht bei jedem ist es so das sie es so nicht verstehen,das man auch nach

    längerer Zeit traurig ist.Ich verstehe das du nicht gerne Kontakt hast ,aber irgendwann wird es

    besser werden.Ich wünsache dir ganz viel Kraft.Liebe Grüße Helga

  • Liebe Ganzallein


    Ich habe eben deine Geschichte gelesen und habe gespürt, wie du dir über alles so viele Gedanken machst. Ich bin in dieser Hinsicht gleich. Ich kann so gut verstehen, was du beschreibst. Es tut mir sehr leid, dass du so viele liebe Menschen verlieren musstest und nun auch noch von deiner lieben Mama und von deinem Elternhaus ein grosses Stück Abschied nehmen musst. Das ist sehr, sehr schwer.


    Ich habe vor etwas mehr als 17 Wochen meinen über alles geliebten Vater verloren und fühle mich, als ob ein Riesenteil meines Lebens einfach weggebrochen ist, allein und entwurzelt fühle ich mich, mein Leben ist instabil geworden und ich muss Tag für Tag schauen, dass nicht alles einstürzt. Und dies, obwohl ich meine Mutter noch habe und selbst auch eine Tochter und einen Partner habe. So kann ich mir nur voller Mitgefühl ausmalen, wie einsam und verloren du dich in der Welt fühlen musst. Niemand mehr, für den du das Allerwertvollste auf der Welt bist, bei dem du einfach du selbst sein kannst, geborgen und getragen. Seit mein Vater gestorben ist, lebe ich in dieser Angst, dass auch meine Mutter völlig unerwartet viel zu früh sterben muss, und ich dann ganz allein dastehe. Es ist ein ganz schlimmes Gefühl.


    Ich schicke dir ganz liebe Grüsse

    Silvia

  • Liebe Ganzallein, herzlich Willkommen hier! Du hast schon viele Verluste gehabt, das tut mir sehr leid! :30:

    Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwer ist, seine Mama ins Heim zu bringen! Ich hoffe, dir hilft der Austausch hier etwas!

    Eine liebe Umarmung für dich :30:, LG Andrea