Liebe Astrid,
ich bin es eigentlich gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen und wie ich heute früh in einem Gespräch mit meinem Cousin feststellte, war ich eigentlich schon seit Jahren der Mittelpunkt unserer kleinen Familie und sowohl mein Vater als auch mein Mann haben sich immer mit mir beraten in allen Dingen des Lebens und mir immer alles erzählt und mir alles anvertraut, es war sogar so, dass ich der Ruhepol war, an den sie sich gewandt haben, während ich nicht unbedingt alles erzählt habe, was mich schon damals bewegt hat, weil ich sie seelisch nicht belasten wollte.
Denn schon seit dem Tod meiner Mutter hat sich meine Lebensmotivation allmählich verringert, sodass ich mein Leben total in den Dienst meiner kleinen Familie gestellt und daraus meine ganze Erfüllung empfangen habe.
Dass mein Vater mit 93 Jahren gestorben ist, war dann letztes Jahr ein völlig natürlicher Vorgang, bei dem ich meine Trauer sehr gut verarbeiten konnte, allerdings habe ich danach meinen Fokus gänzlich auf meinen Mann gerichtet, so wie er ebenfalls immer betonte, wie sehr er mich braucht und dass wir nur mehr uns beide hätten und wir froh sein könnten, dass wir uns haben und dass wir es so schön haben.
Tatsache ist, dass ich seit dem Tod meines Vaters schon eine extreme Verlustangst verspürt habe, sodass mir meine Hausärztin die Psychologin empfohlen hat, zu der ich jetzt gehe (damals bin ich nicht hingegangen, weil mir das dann doch irgendwie unangenehm war).
Und Tatsache ist, dass ich schon vor dem Tod meines Mannes nicht mehr neugierig aufs Leben war, sondern mir das so ausgemalt habe, dass ich mich um ihn kümmere und er sicher sehr alt wird, so gesund und vital wie er war und ich dann mit Mitte Siebzig einfach in der Vergangenheit lebe und auf den Tod warte. Immer im Kopf die Wunschvorstellung, dass wir vielleicht gemeinsam sterben bei einer unser Unternehmungen. Mir ist schon klar, dass das ziemlich blöd und unrealistisch von mir war und dass es den Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, vermutlich nicht gerade verbessert hat.
Tatsache ist daher auch, dass ich jetzt ziemlich ratlos dastehe und keine Ahnung habe, was ich mit meinem Restleben anfangen soll.
Der Schmerz der Trauer ist die eine Geschichte, das Vermissen, die Sehnsucht, die Einsamkeit. Darin tröstet mich die spirituelle Literatur, denn ich bin zunehmend so gestimmt, dass ich fest daran glaube, dass es ihn noch gibt auf der anderen Seite und ich bin mir auch sicher, dass er wollen würde, dass es mir gut geht und ich mein Leben genieße.
Aber eben da bin ich in einer Zwickmühle, weil ich einfach nicht weiß wie ich das anstellen soll, denn genaugenommen habe ich lange genug gelebt, sodass ich nicht weiß, was ich hier noch soll und viel lieber ebenfalls auf die andere Seite wechseln würde.
So wie es aber aussieht, gibt es einen Grund, dass ich noch auf der Erde bleiben muss, während mein Mann gehen musste.
Allerdings habe ich echte Probleme damit, einfach so weiterzuleben, ohne zu wissen wofür, und ich schwanke zwischen dem starken Gefühl, dass da noch etwas für mich zu tun ist, wenn ich meine Gefühle und Trauer ernsthaft bearbeitet habe und dem panischen Gefühl, dass das sowieso alles umsonst ist und dass ich bis zu meinem Lebensende allein in einem zwar luxuriösen, aber sinnentleerten Leben aushalten muss, weil mich absolut gar nichts mehr freut - momentan bin ich sozusagen der personifizierte Lebensüberdruss.
Nach einer großen Portion Baldriantropfen war es mir jetzt ein Bedürfnis, diese Essenz meines heutigen Tages aufzuschreiben und manchmal bin ich selbst fassungslos, was so alles in meinem Kopf vorgeht in diesen stürmischen Zeiten.