Liebe Kikiro,
als wir im Krankenhaus einer kleinen Stadt geboren wurden, gab es nur ein freies Babybett, in das wir beide gelegt wurden.
Als ein zweites Babybett frei wurde, haben wir uns mit lautem Schreien erfolgreich dagegen gewehrt , getrennt zu werden. So ging das Zuhause weiter und wir verbrachten unsere gesamte Babyzeit in einem Bett. So fing unser Miteinander an.
Schon in Kindertagen haben wir immer aufeinander geachtet, wenn eine traurig war, war die andere es auch.
Wir haben unsere gesamte Schulzeit in der selben Klasse verbracht.
Wenn ich etwas nicht essen mochte, hat sie es auch nicht gegessen.
Sie war diejenige, die dafür sorgte, daß es mir gut ging, weil es ihr sonst auch nicht gut ging. Sie war mutiger als ich und hob die Steine auf, auf denen ich die Dinge lieber aussitzen mochte.
Sie war sehr feinsinnig, schon ein Blick konnte sie verletzen. Während ich mein Umfeld eher optisch wahrnahm, war sie ein Ohrenmensch. Sie konnte genau sagen, was in einem Gespräch ausgesprochen wurde, in welcher Weise es artikuliert wurde und was aus welchen Gründen verschwiegen wurde. Sie erfasste tiefgründig die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Sie konnte sehr gut mit ihrer Sprache umgehen mündlich und schriftlich und das war etwas, was sie sehr gerne tat.
Sie war jedermann gegenüber tolerant, sehr großzügig in materiellen und nicht materiellen Angelegenheiten und hatte auch Menschen, die sie nicht so mochte , gegenüber einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
Ich habe soviele Erinnerungen aus den 67 Jahren, die wir miteinander verbringen durften. Dinge, die lange vergessen waren kommen mir wieder in den Kopf.
Wir konnten ohne Worte miteinander kommunizieren. Die eine wusste stets, wie es der anderen ging.
Ich könnte tagelang von ihr schreiben.
Sie war lebenslang mein friedvolles, behütendes und liebevolles Zuhause.
Dir liebe Kikiro wünsche ich einen Sonntag, der ein wenig Freude mit sich bringt.
Liebe Grüße
Sommermond